Zauberland ist abgebrannt…

Offener Liebe(s)brief an Thorsten Merten


Lieber Thorsten Merten,

dies ist ein offener Liebe(s)brief an dich. Stellvertretend. Symbolisch.

Als ich dich jüngst sah, in einer riesigen Villa, schienst du so weit weg. So distanziert. Schade. Dennoch musste ich herzhaft lachen.
Vielen ist das Lachen in diesem Land abhanden gekommen. Sogar der Humor, der ja bekanntermaßen auch da beginnt, wo der Spaß endet. Gefühlt wird alles immer enger, obwohl die meisten doch brav Abstand halten.

Jedenfalls: Danke, dass du bei der Künstleraktion #allesdichtmachen #niewiederaufmachen #lockdownfürimmer​ mitgemacht hast.

Mein erster Gedanke war: „Endlich!“

Lieber Thorsten, ich schreibe dir, weil ich dir schon oft begegnet bin. Leibhaftig. Wir sind verbunden. In erzähl‘ einfach mal:

In der Theaterklause im Schweriner Staatstheater hast du einmal ganz dicht neben mir gestanden. Ich trank schwarzen Tee und hab vor „lauter Schreck“, dir so nah zu kommen, mit Sicherheit irgendwas Konfuses in mein Notizbuch geschrieben. Meine Tochter Caroline war auch dabei. Ihretwegen haben wir uns damals immer in die Klause geschlichen, sind über den Künstlereingang irgendeinem Musiker mit schwerem Gepäck hinterher. Meine Tochter war theaterbesessen, musst du wissen. Dafür hat sie schon mit 12 Jahren alles stehen und liegen lassen. Eure Matinee „MfG“ im E-Werk hat sie wohl sechs oder sieben Mal besucht. Die Musik-CD dazu hat sie noch. Sie war damals 13.
Wir haben dich als Randle Mc. Murphy in „ Einer flog über das Kuckucksnest“ beklatscht, in „Sonnenallee“ (Beitragsbild) gefeiert und bei deinem Konzert zusammen mit dem großartigen John Carlson glühte nicht nur mein Herz. Ich weiß, du magst Rio Reiser sehr. Und keiner kann ihn so authentisch interpretieren. Es bleibt unvergesslich. „Zauberland ist abgebrannt….“

Jahrelang waren wir bei jeder Premiere dabei, bei jeder. Wir haben die Inszenierungen von Peter Dehler geliebt, gefeiert, analysiert, genossen, geatmet. Wir kannten damals jeden im Ensemble: Katrin Huke, Jörg Zirnstein, Markus Wünsch, Jochen Fahr…. Ich kann gar nicht alle aufzählen. Für manche hatten wir Spitznamen. Du warst für uns immer „Thorsti“, der „mit dem Schnuffeltuch“. Das hat mit der Inszenierung „Solo Sunny“ zu tun. Irgendwie hattest du da so ein Tröste-Tuch…. ??? Ich sehe die Szene noch. Genaueres hab ich vergessen. Herrgott, du hast uns so leid getan, weil Sunny deine Liebe nicht erwidert und dir die Rosen vor die Füße geworfen hat. Weißt du noch? Caro und ich haben uns im Zuschauerraum zugeflüstert, dass du nicht traurig sein musst, wir würden dich beide nehmen. Grins! Tja, so läuft das manchmal im Publikum.
Tatsächlich war das Staatstheater Schwerin damals ein wahrhaftiges Stück Heimat für uns. Sinnbildlich. Ich kann diese Abende noch immer fühlen: die Aufregung im Vorfeld (Parkplatz suchen), die Stufen zum Eingang, die schweren Türen, das Stimmengewirr im Foyer, das kleine Theaterlädchen, kühler Martini in der Pause, das Klingeln, der Vorhang. Balsam für Geist und Seele, schon lange bevor das Stück überhaupt angefangen hatte. Auch erinnere ich das Ruckeln der Stuhl-Konstruktionen im rustikalen E-Werk, wenn man in die oberen Reihen balancierte. Dort war freie Platzwahl und man musste schnell sein. Wir haben gern ganz vorn gesessen – je näher, desto besser. Jetzt, da ich so zurückschaue, kann ich mich sogar noch an die älteren Damen erinnern, die die Karten abrissen. Irgendwie waren die immer sehr streng. Alles musste seine Ordnung haben beim Einlass.  Manchmal machten sie auch einen Witz, der so witzig gar nicht war. Aber weil sie ja sonst immer so streng waren, war es sehr lustig. Und es versprach dann schon am Eingang ein besonderer Abend zu werden. Tja, das ist lange her: 2003, 2004…. In einem Land vor unserer Zeit.
Und doch wirkt es bis heute.

Lieber Thorsten Merten, du hast sicher keine Ahnung, wer ich bin – oder meine Tochter. Die ist heute übrigens 31 und freischaffende Filmemacherin in Berlin. Fast würde ich meine Hand ins Feuer legen, dass sie nicht wäre, was sie ist, nämlich Künstlerin, wenn es dich, Peter Dehler, das Theater und viele andere Kulturschaffende nicht gäbe.

Kunst und Kultur sind Lebenselixier.
Es wirkt unmittelbar, bewusst, unbewusst und nachhaltig. Nicht zwanghaft für jeden. Das ist nicht meine Behauptung.
Doch um als wahrhaftige Menschen unser Haupt zu heben, brauchen wir Inspiration und Begleitung.
Sich geistreiche Räume zu erobern – ob in der Musik, im Schauspiel, in der Malerei, im Tanz, in der Dichtung oder Bildhauerei – kann Wunder wirken. Natürlich bleibt es eine persönliche Entscheidung, Kunst und Kultur(volles) zu mögen und zu unterstützen. Doch der Möglichkeiten und ihres freien Ausdrucks dürfen wir uns nicht berauben lassen. Niemals. Never. Nein.

Lieber Thorsten Merten, schön, dass es dich gibt. Danke. Auch dafür, dass du dich einreihst in den Kreis derer, die sich nicht nehmen lassen, was sie sind oder künftig werden wollen: Offen. Mutig. Frei.

Grüße und Dank an die vielen anderen.

Habe die Ehre

Ina


Foto: Rolf Ahlborn

Vom Streiten

Gerade sprach ich mit Imad Ousaouri aus Agadir über die deutsche Sprache, Muslime, Integration, Frieden, die Araber, schönes Wetter, Kamele, Respekt, Gott, die Welt und Gewürze. Was man als neugierige Journalistin einen marokkanischen Landsmann halt alles so fragt. Mit einem Zwinkern will ich von dem 28-jährigen Nordafrikaner (er lebt seit letztem April in der Hansestadt Wismar) schließlich auch wissen, ob er denn auf deutsch auch schon streiten kann. Er lacht. Dann seine Antwort, die mich fasziniert…. 

Die Skizze von Imad.

Wort-Art: Skizze von Imad.

Imad sagt, dass Streit in jeder Sprache im Grunde ganz einfach ist. Dann nimmt er einen Skizzenblock, denkt kurz nach und zeichnet etwas. Imad vergleicht ein gutes Wort mit einem Backstein. „Schau“, sagt er. „Gute Worte sind wie Backsteine. Du kannst sie zusammensetzen, Schritt für Schritt… und zum Beispiel ein Haus daraus bauen. Das braucht Zeit und auch ein bisschen Anstrengung. Ein schlechtes Wort hingegen ist… wie sagt man…???“ (Imad malt… und wir einigen uns dann lachend auf „Abrissbirne“). „Genau“, sagt er. „Ein schlechtes Wort ist wie eine Abrissbirne. Nur ein (!) einziges Wort genügt, um ein ganzes Haus einstürzen zu lassen. Verstehst du? Das meine ich mit: Streiten ist leicht!“

Atelierbesuch

Der Maler Hans W. Scheibner.

Besuch bei dem Maßlower Maler, Bildhauer, Regisseur und Puppenbauer Hans W. Scheibner. Sein Atelier erinnert an das kreative Chaos des irischen Malers Francis Bacon. Überall Bilder, Farben, Zettel, Fetzen, Fotos, Erinnerungen, Puppen, Masken, Fundstücke…
Klar, Hans mag den Bacon. Und Lucian Freud und George Grosz – die beiden besonders. Er selbst ist ein gnadenlos Kreativer – erweckt Hölzer, Schrauben, manchmal sogar Abfall zu neuem Leben. Und Hans malt mit einem Ausdruck, der mich in Ehrfurcht zuweilen fast zurückweichen lässt. Kraftvoll, rabiat, konsequent. Dem Gerhard Richter hat er mit Pinsel und leuchtender Farbe prompt ein Schlitzohr verpasst. Seine Porträts erstaunen mich. Zu Richter gibt es in Hans Scheibners Biografie durchaus Verbindungen. Anfang der 60-iger Jahre hatte er zusammen mit Hans-Hendrik Grimmling sein erstes Atelier in Leipzig. Später gehörten zu dieser Gruppe auch Gerhard Richter und Lutz Friedel.

„Der Mensch weiß oft gar nicht, welches Glück ihn umgibt“, sagt der Maler heute. Nicht nur sein fast weißer ‚Hans-Bart‘ (mit dem er sicher schon auf die Welt gekommen ist) und die vielen Jahre Lebenserfahrung machen den Tausendsassa humorvoll, streng, weich und weise zugleich. Das traumhafte Anwesen in Maßlow, die Natur, viel frische Luft, Reiten mit dem befreundeten Bauern aus der Nachbarschaft, seine Familie…. „Ich bin endlich angekommen“, sagt Hans. In ein paar Tagen wird er 69.

Den Traum Künstler zu sein, hat er schon als Junge so intensiv geträumt, dass ihn niemand aufhalten konnte. Dabei hat mit Boxen alles angefangen. In seinem ersten Heimat-„Stall“ in der Nähe von Leipzig lernt er Selbstbewusstsein, Disziplin und Fairness. „Wer weiß, vielleicht wäre ich sonst sogar ein Schläger geworden“, sagt Hans. Als Kind hat er stark gestottert. „Hat sich durch’s Boxen gelöst“, ist er sich sicher. Ein Boxsack hängt heute noch in seinem Atelier – zwischen riesigen Leinwänden mit Wettkampfszenen und Porträts von Weltmeistern und Trainern.

Die Begegnung mit seiner Frau Karin Zimmermann ist 1974 so etwas wie Fügung. „Wir sind grundverschieden“, sagt er. „Haben einander aber nie ändern wollen.“ Für ihn ist das Liebe. „Jeden Morgen, wenn ich aufstehe, bin ich fasziniert von dieser Frau, fahre noch immer total auf sie ab. Ich sage, die beste Kosmetik der Geist.“

Karin ist auch Malerin. Als co-kreatives Paar sind beide miteinander gereift und gewachsen. Zwei Kinder – auch Künstler. „Ohne Karin, ihren Halt, hätte ich mich wahrscheinlich sehr viel früher völlig verlebt. Ich wäre einfach immer weitergekreiselt…. Ich habe in jungen Jahren sehr intensiv gelebt, kaum geschlafen. Ich wollte nichts verpassen.“

Die Dummheit vieler Menschen regt Hans auf. Er schimpft auf die Achtlosen, die Mitläufer, den ganzen Konsumwahnsinn. Sein künstlerisches Werk trägt Botschaften. Oft die einer kaputten Welt und ganz eigene. Er collagiert, probiert, transformiert. Gerade ist in seinem Atelier das „deutsche Rassehuhn“ entstanden – eine seltsam mutierte Kreatur aus Knochen, Hahnenfüßen, einem Hundegebiss und zig Fetzen von bunten Werbeprospekten. Ihn gruselt die Freiheit der Idioten. „Irgendwann weiß keiner mehr, wie es geht“, sagt er kopfschüttelnd.

Er, der er zu DDR-Zeiten des eigenen Kopfes und künstlerischer Wahrheiten wegen Theaterverbot hatte, preist heute mehr und mehr die einfachen Wunder um ihn herum. „Jeden Tag geht die Sonne auf, die Vögel zwitschern. Die Hühner im Hof gackern und legen ein Ei, was ich dann zum Frühstück essen. Ich habe eine so tiefe Hochachtungen vor all diesen Geschenken. Und während diese Wunder tagtäglich geschehen, wollen Leute noch schnellere Autos und hochfrisierte Maschinen…. Sie leben am Leben vorbei, weil sie denken, dass das liebe Geld unser aller Gott ist.“

Hans hat einen schönen Humor. Den trägt er auf der Zunge. Seine Hände hingegen übersetzen eher still alles in eine lebendige Form. Er hat neue Latten am Zaun. Vor dem Haus. Bunte. Mit Figuren drauf. Er erzählt mir dazu fröhliche Geschichten. Dann zeigt er auf die großen hellen Plastiken im Garten mit den vielen Bäumen. Die Arbeiten sind von seiner Tochter Anna Martha Napp. Wunderbare Symbiose zwischen Kunst und Natur.
An diesem Ort zu sein, macht ganz offen und zufrieden. Tut richtig gut.

Ja, das Dorf Maßlow ist durch Hans W. Scheibner und seine Familie ein spürbar besonderer Ort. Bezaubernd. Inspirierend. Lebenswert.

www.kunstatelier-masslow.de

Hans Bilder sind seine Biografie.
Hans und das „deutsche Rassehuhn“.
Porträt Gerhard Richter „mit Schlitzohr“.
Atelierblick.
Alle Latten im Zaun sind neu. Mit bunten Figuren.

Was, wenn keiner kommt?

Drei Puppenspieler zwischen zwei Bäumen.
Eine Welt ohne Zuschauer? …. beeinflusst das Spiel und die Bühne. Gestern sprachen wir darüber. In einer kleinen Runde betroffener Herzen. Das Rotkäppchen-Puppenspielfestival in Wismar blieb ohne Gäste. Zu den Vorstellungen um 18 und um 20 Uhr kam niemand. Nicht ein einziger Zuschauer. Drei Spieler, ein Regisseur, jede Menge Puppen, Licht, Ton und so viel Hingabe….. Und nicht eine Nase ließ sich blicken. Heftig! Erfahrungen, die jeder auf seine Art und Weise verstoffwechseln muss. Was sich stark in mir bewegt, ist die Forschungsfrage: Was, wenn du etwas tust, dass du so sehr liebst, dass du es tun musst – und du tust es in Hingabe auch an deine Mitmenschen. Doch die nehmen es nicht wahr, nicht ernst, nicht an…. Du bereitest ein Festmahl und keiner nimmt an deiner Tafel Platz.

Was geschieht? 
Was geschieht nicht? 
Vor allem viele Künstler(seelen) machen diese Erfahrung immer wieder. Und arbeiten dennoch unbeirrt, mutig und freudig weiter. Werden stärker, besser. Das ist mir gestern so richtig bewusst geworden. Deshalb: Ich verneige mich vor euch, ihr Abenteurer, Kunstschaffende und Schöpfer dieser Welt! Danke, dass es euch gibt! Und dass wir nicht aufgeben werden, diese Welt bunter und schöner und fröhlicher und wertvoller zu machen. 
Weil keine Zuschauer da waren, blieben die Großmütter und Wölfe und roten Kappen in der Kiste. Zum Trost gab es Rotkäppchen-Sekt. Dann haben Juana, Hans und Rolf spontan eine Geschichte gespielt. Für meine Fotokamera. Schaut:

Schade! Keiner in Sicht.
Hochspannung im Hintergrund.

Im dichten Dickicht.

Balance-Act.

Schirmherrschaft.

Ommm!!!

Regisseur zieht Schauspielerin mit.

Schauspielerin wehrt sich….

Annäherung auf der Parkbank.
Einander tragen. Mit Freude. Galoppi!
Juana mit Flunsch.

Steve Schapiro

Steve Schapiro.
Zwei coole Wochenendereignisse: Caroline und Joshua zu Besuch aus Berlin + Retrospektive von Star-Fotograf Steve Schapiro in Kunsthalle Rostock. Er hat sie alle fotografiert: Kennedy, Muhammd Ali, Martin Luther King, Tina Turner, Magritte…. Wir also gleich mittags rein ins Auto=>HRO. Die Dame an der Kasse: „Tut mir leid. Die Ausstellung ist noch nicht fertig, Eröffnung ist erst heute Abend.“ Shit! Hatte ich nicht dran gedacht. Wir mit hängenden Schultern und Hundeblick: „Bitte! Machen Sie eine Ausnahme!“ Die Dame kopfschüttelnd: „Ich darf sie nicht reinlassen.“ Wir: „Bütte, bütte…..!“ Sie: „Der Chef ist nicht im Hause, ich kann nicht….“ Wir: „Oh bitte, bitte, bitte, bitte!“ Dann eine völlig unerwartete Wende! Die Frau an der Kasse sagt: „Ok. Das kann jetzt nur der Künstler selbst entscheiden. Fragen Sie Herrn Shapiro. „Hä???? „Wie jetzt?“ Sie: „Er sitzt nebenan im Bistro und isst zu Mittag. Fragen Sie ihn. Wenn er ja sagt, lass ich sie rein.“ Wir völlig baff und zugegeben etwas kleinlauter: „Ooookeee….!“ Ich stoß Caro an: „Los, frag du ihn. Du sprichst besser Englisch.“ Sie: „Ich trau mich nicht….“ Kurzes Hickhack, ablachen, Mut fassen, durchatmen….“ Wir also ins Bistro und fragen Steve Schapiro, ob wir vor Eröffnung in seine Ausstellung dürfen. Seine Antwort: „Yeah..s, of course. Have Fun!“ Cooool! Später folgt der Meister nach, schaut sich um, macht einige Fotos und legt sich dann zum Mittagsschläfchen mitten in seine Ausstellung. Da habe ich dann abgedrückt… 

Don’t move! Lebensfreude verboten.

Modjgan Hashemian wurde in Berlin geboren. Hier lebt sie auch heute. Dennoch ist sie ein Kind zweier Welten. Die ersten Jahre zwischen Berlin und Teheran haben sie geprägt. Ihre persischen Wurzeln sind der 37-Jährigen ins Gesicht geschrieben.

Wir treffen uns in der „Seerose“, einem kleinen vegetarischen Restaurant in Berlin-Kreuzberg. Es wird von Iranern geführt. „Es sind gute alte Freunde meiner Eltern“, erzählt Modjgan und bestellt noch etwas Couscous zum Salat.  Auf persisch. An ihrer Seite der fünfjährige Bijan. Er hat glänzend schwarzes Haar und große braune Augen. Genau wie seine Mama.
Modjgan Hashemian ist Tänzerin und Choreografin. Im März hatte ihr neuestes Stück „Don’t move“ im Berliner Ballhaus Premiere. Gerade ist sie voller Eindrücke aus Istanbul und Köln zurückgekehrt. Auch dort berührte  ihr Tanzstück die Zuschauer.
„Don’t move“ bewegt. Deshalb, weil es die Geschichte eines Landes erzählt, in dem Menschen sich nicht frei bewegen dürfen. Tanzen ist im Iran verboten.
Teheran, Anfang der 80-er Jahre: Es hätte die Befreiung des persischen Volkes werden sollen, der Sturz des autoritären Schah-Regimes. Stattdessen tun sich neue Schatten auf. Mit Einführung der Scharia in der Islamischen Republik Iran sind Lebensfreude und Feiern in der Öffentlichkeit verpönt. Die Menschen gehen grau und schwarz verschleiert. Bis zur Revolution 1979 gab es Folklore und Ballett. Danach nichts mehr. Es ist, als würde das persische Wort für Tanz – Raghs – mit einem politischen Fluch in Ketten gelegt und kurzerhand aus dem Sprachgebrauch gestrichen. Benutzt werden darf nur noch der Begriff „rhythmische Bewegung“. Es ist grotesk.
„Die Iraner lieben das Tanzen“, weiß Modjgan Hashemian. „Sobald sie Musik hören, möchten sie sich bewegen. Es liegt ihnen im Blut.“ Doch was einst frei durch alle Lebensadern fließen durfte, geriet über Jahrzehnte der Unterdrückung in eine Art Schockstarre. Wer es wagt, öffentlich zu tanzen und dabei erwischt oder verraten wird, läuft Gefahr, im Gefängnis zu landen. „Das betrifft vor allem die Frauen“, erzählt Modjgan. „In den Augen der Mullahs hat die Bewegung mit dem Körper einen großen Bezug zur Sexualität. Sie wird als Bedrohung und Gefahr empfunden und ist mit deren islamischen Werten nicht vereinbar. Tanzen ist wie Prostitution.“
Und dennoch. Trotz der irrsinnigen körperpolitischen Moralgesetze der iranischen Regierung wird im Land getanzt. Heimlich. In Wohnzimmern, Kellern und auf Dächern. Bewegung wird damit zum Drama. Vor allem für die, die Tanz als ihre Profession ansehen. Sie sind der Willkür der Zensurbehörde ausgeliefert. Keiner weiß, wo, wann und warum sie die Zügel ihrer Macht anziehen oder auch locker lassen. Mittlerweile laufen die Menschen geduckt, misstrauen einander und tragen vielerlei Masken. Regimeterror und Selbstzensur zersetzen wie ein grauer Dämon den aufrechten Gang eines ganzen Volkes.
„Das alles macht mich unheimlich wütend und traurig zugleich“,  so die Deutsch-Iranerin. Als Kind faszinierten sie die persischen Teppiche im Haus ihrer Großmutter in Süd-Teheran, einem armen Arbeiterviertel. „Immer nach der Schule rannte ich ganz schnell nach Hause, riss mir den dichten Schleier vom Kopf, der bei der Hitze schrecklich warm war und mich eingeengt hat. Dann habe ich die Musik aufgedreht und mich zu den farbigen Mustern auf dem Teppich bewegt. Ich habe einfach die Muster auf dem Teppich nachgetanzt. Das fand ich schön und befreiend.“
Modjgan’s Leben bewegt sich weiter, webt das eigene Muster. Berlin wird Mitte der 80-er Jahre endgültig ihre Heimat. Trotz Vorbehalte in der Familie wird sie Tänzerin, studiert an der Schauspielschule Ernst-Busch Choreografie. Kindheitserinnerungen kommen hoch. Sie erinnert sich an die Teppiche und deren Muster, möchte mehr über die Knoten, Schlaufen, Schlingen und Knüpftechniken erfahren und die alten Traditionen in Bewegungen auf der Bühne umsetzen. Nach 27 Jahren reist die Künstlerin 2007 erstmals wieder nach Teheran. „Als das Flugzeug landete, liefen mir die Tränen“, erinnert sie sich. „Ich liebe diese Stadt.  Da waren plötzlich all die bekannten Gerüche meiner Kindheit, das, was man so speichert und was mit einem selbst eng verbunden ist. Es war sehr emotional. Ich wollte gar nicht schlafen, sondern den Genuss voll ausleben.“ 2009 entsteht ihre erste größere Produktion „Move in Patterns“. Es erzählt die Geschichte ihrer Kindheit in Teheran.
Auch auf späteren Reisen kommt sie immer wieder mit Tänzern ins Gespräch. Es sind Begegnungen im Untergrund. Die Kollegen vertrauen der Choreografin aus Berlin, deren Cousins, Cousinen, Onkel und Tanten noch immer in Teheran leben. Hier wird 2010 die Idee für „Don’t move“ geboren.
„Ich habe viele Menschen interviewt, die früher beruflich auf der Bühne standen und später dafür hinter Gittern saßen“, erzählt die junge Frau. „Im Stadttheater in Teheran wurde Othellodreißigmal gespielt. Die hatten das Stück abgenickt, es spielte auf Festivals, die Choreografin und Kostümbildnerin hatten sogar Preise bekommen. Dann plötzlich ließ die Zensurbehörde die Darsteller gerichtlich vorladen. Sie bekamen Spielverbot und mussten eidesstattlich erklären, sich nicht mehr auf der Bühne zu bewegen. Einfach so.“ In Modjgan wächst ein Wunsch – sie möchte gemeinsam mit iranischen und deutschen Tänzern eine Ausdrucksform finden, diese  Situation körperlich auf der Bühne auszudrücken.“
Vor Ort entstehen kleine Video-Sequenzen, heimlich auf Dächern gedreht und über Improvisationen erarbeitet. Die Freude an der Arbeit ist von Furcht und Unsicherheit durchdrungen. „Nur nicht auffliegen!“  
Geübt wird auch über Skype. „Mir war immer ein Austausch sehr wichtig“, so die Choreografin.  Ein Tanzprojekt lebt von gegenseitigen Inspirationen. „Also haben wir uns vor dem Rechner getroffen und Bewegungen ausgetauscht, über tausende Kilometer hinweg. Wir haben das Skypedance genannt. Manchmal brach das Internet zusammen oder die Übertragung kam zeitverzerrt. Mit all den Unwegbarkeiten haben wir uns künstlerisch auseinandergesetzt. Es gehört zu Don’t move. Den Beteiligten war enorm wichtig, voreinander und miteinander zu tanzen.“ Eine ungewöhnliche Probenarbeit.
Die Projektion wird im Projekt schließlich zum Medium, um Grenzen aufzuheben.  Im Stück performen Berliner Tänzer live, während sie über Videoinstallationen mit Stimmen und Bewegungen der Kollegen in Teheran verbunden sind. Jene auf der Leinwand dürfen selbst nicht auf der Bühne stehen. Und doch wird Kommunikation über Grenzen hinweg möglich. Die Moves der Tänzer und die Eigenarten der Inszenierung lassen den Zuschauer spüren, was es bedeutet, in seinem eigenen Körper eingeengt zu sein und langsam erstickt zu werden. Es ist ein Stück über Schikane, Gefahr und Starre und gleichzeitig eine berührende Hommage an Liebe, Kreativität und Freiheit.
„Viele Tränen sind bei diesem Projekt geflossen“, erzählt mir Modjgan Hashemian. „Es schmerzt sehr, das Schicksal all der jungen talentierten Menschen zu sehen, die langsam beginnen, die Hoffnung aufzugeben. Und dennoch gibt es einen Widerstand. All das zu zeigen, ist mir ein großes Anliegen.“
Sarah, eine junge Tänzerin aus Teheran, sagt in einem Interview zu Susanne Vincenz, Dramaturgin und Ko-Produzentin bei „Don’t move“: „Wir brauchen unbedingt eine Tanztherapie für das ganze Land! Im Iran ist der Körper dieses Ding, das du in Kleidung steckst. Der Körper ist wie eingefroren. Und das produziert Engstirnigkeit. Wenn du den Körper befreist, dann befreist du auch das Bewusstsein.“
 „Ich lebe heute bewusster“, sagt mir Modjgan Hashemian. Sie ist gewachsen. Eine Künstlerin, deren Wurzeln eng mit der persischen Kultur verbunden sind und die aus dem Teufelskreis von Moral, Gesetz und politischer Agenda ausbrechen durfte.
 „Ich sehe, was ich für Möglichkeiten habe und die möchte ich ausschöpfen. Ich träume von meiner eigenen Company. Denn ich möchte tanzen, tanzen, tanzen!“