Zauberland ist abgebrannt…

Offener Liebe(s)brief an Thorsten Merten


Lieber Thorsten Merten,

dies ist ein offener Liebe(s)brief an dich. Stellvertretend. Symbolisch.

Als ich dich jüngst sah, in einer riesigen Villa, schienst du so weit weg. So distanziert. Schade. Dennoch musste ich herzhaft lachen.
Vielen ist das Lachen in diesem Land abhanden gekommen. Sogar der Humor, der ja bekanntermaßen auch da beginnt, wo der Spaß endet. Gefühlt wird alles immer enger, obwohl die meisten doch brav Abstand halten.

Jedenfalls: Danke, dass du bei der Künstleraktion #allesdichtmachen #niewiederaufmachen #lockdownfürimmer​ mitgemacht hast.

Mein erster Gedanke war: „Endlich!“

Lieber Thorsten, ich schreibe dir, weil ich dir schon oft begegnet bin. Leibhaftig. Wir sind verbunden. In erzähl‘ einfach mal:

In der Theaterklause im Schweriner Staatstheater hast du einmal ganz dicht neben mir gestanden. Ich trank schwarzen Tee und hab vor „lauter Schreck“, dir so nah zu kommen, mit Sicherheit irgendwas Konfuses in mein Notizbuch geschrieben. Meine Tochter Caroline war auch dabei. Ihretwegen haben wir uns damals immer in die Klause geschlichen, sind über den Künstlereingang irgendeinem Musiker mit schwerem Gepäck hinterher. Meine Tochter war theaterbesessen, musst du wissen. Dafür hat sie schon mit 12 Jahren alles stehen und liegen lassen. Eure Matinee „MfG“ im E-Werk hat sie wohl sechs oder sieben Mal besucht. Die Musik-CD dazu hat sie noch. Sie war damals 13.
Wir haben dich als Randle Mc. Murphy in „ Einer flog über das Kuckucksnest“ beklatscht, in „Sonnenallee“ (Beitragsbild) gefeiert und bei deinem Konzert zusammen mit dem großartigen John Carlson glühte nicht nur mein Herz. Ich weiß, du magst Rio Reiser sehr. Und keiner kann ihn so authentisch interpretieren. Es bleibt unvergesslich. „Zauberland ist abgebrannt….“

Jahrelang waren wir bei jeder Premiere dabei, bei jeder. Wir haben die Inszenierungen von Peter Dehler geliebt, gefeiert, analysiert, genossen, geatmet. Wir kannten damals jeden im Ensemble: Katrin Huke, Jörg Zirnstein, Markus Wünsch, Jochen Fahr…. Ich kann gar nicht alle aufzählen. Für manche hatten wir Spitznamen. Du warst für uns immer „Thorsti“, der „mit dem Schnuffeltuch“. Das hat mit der Inszenierung „Solo Sunny“ zu tun. Irgendwie hattest du da so ein Tröste-Tuch…. ??? Ich sehe die Szene noch. Genaueres hab ich vergessen. Herrgott, du hast uns so leid getan, weil Sunny deine Liebe nicht erwidert und dir die Rosen vor die Füße geworfen hat. Weißt du noch? Caro und ich haben uns im Zuschauerraum zugeflüstert, dass du nicht traurig sein musst, wir würden dich beide nehmen. Grins! Tja, so läuft das manchmal im Publikum.
Tatsächlich war das Staatstheater Schwerin damals ein wahrhaftiges Stück Heimat für uns. Sinnbildlich. Ich kann diese Abende noch immer fühlen: die Aufregung im Vorfeld (Parkplatz suchen), die Stufen zum Eingang, die schweren Türen, das Stimmengewirr im Foyer, das kleine Theaterlädchen, kühler Martini in der Pause, das Klingeln, der Vorhang. Balsam für Geist und Seele, schon lange bevor das Stück überhaupt angefangen hatte. Auch erinnere ich das Ruckeln der Stuhl-Konstruktionen im rustikalen E-Werk, wenn man in die oberen Reihen balancierte. Dort war freie Platzwahl und man musste schnell sein. Wir haben gern ganz vorn gesessen – je näher, desto besser. Jetzt, da ich so zurückschaue, kann ich mich sogar noch an die älteren Damen erinnern, die die Karten abrissen. Irgendwie waren die immer sehr streng. Alles musste seine Ordnung haben beim Einlass.  Manchmal machten sie auch einen Witz, der so witzig gar nicht war. Aber weil sie ja sonst immer so streng waren, war es sehr lustig. Und es versprach dann schon am Eingang ein besonderer Abend zu werden. Tja, das ist lange her: 2003, 2004…. In einem Land vor unserer Zeit.
Und doch wirkt es bis heute.

Lieber Thorsten Merten, du hast sicher keine Ahnung, wer ich bin – oder meine Tochter. Die ist heute übrigens 31 und freischaffende Filmemacherin in Berlin. Fast würde ich meine Hand ins Feuer legen, dass sie nicht wäre, was sie ist, nämlich Künstlerin, wenn es dich, Peter Dehler, das Theater und viele andere Kulturschaffende nicht gäbe.

Kunst und Kultur sind Lebenselixier.
Es wirkt unmittelbar, bewusst, unbewusst und nachhaltig. Nicht zwanghaft für jeden. Das ist nicht meine Behauptung.
Doch um als wahrhaftige Menschen unser Haupt zu heben, brauchen wir Inspiration und Begleitung.
Sich geistreiche Räume zu erobern – ob in der Musik, im Schauspiel, in der Malerei, im Tanz, in der Dichtung oder Bildhauerei – kann Wunder wirken. Natürlich bleibt es eine persönliche Entscheidung, Kunst und Kultur(volles) zu mögen und zu unterstützen. Doch der Möglichkeiten und ihres freien Ausdrucks dürfen wir uns nicht berauben lassen. Niemals. Never. Nein.

Lieber Thorsten Merten, schön, dass es dich gibt. Danke. Auch dafür, dass du dich einreihst in den Kreis derer, die sich nicht nehmen lassen, was sie sind oder künftig werden wollen: Offen. Mutig. Frei.

Grüße und Dank an die vielen anderen.

Habe die Ehre

Ina


Foto: Rolf Ahlborn

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