Die Spinnerinnen kommen

Gerade neu im Sanddorn-Verlag erschienen: Band 1.

Puhhh! Ich weiß gar nicht, wo ich beginnen soll. Ich möchte dir von einem Buch erzählen und noch viel lieber möchte ich dir von Menschen erzählen, deren Erfahrungen, Wünsche, Träume und Reisen dir in diesem Buch begegnen werden und am allerliebsten möchte ich dir von Annette erzählen, einem der verrücktesten Weibsbilder, dem ich je begegnet bin. Verrückt im Sinne von geradlinig und wahrhaftig: schön, wild, weise, bienenfleißig und zuverlässig. Ohne Annette gäbe es das Buch nicht, von dem ich dir heute erzählen möchte. Anders: Weil es Annette gibt, gibt es seit letztem Vollmond ein Buch mehr in der reichen Weltenbibliothek. Und weil es das Buch gibt, schreibe ich diese Zeilen, die du jetzt liest. Und weil du meine Zeilen liest, wird etwas geschehen. Du wirst sehen. Die Geschichte geht nämlich weiter. Sie kann gar nicht enden, weil alles miteinander verwoben ist. Genau davon kündet dieses Buch. Es heißt: Die Spinner:innen. Es ist ein Gemeinschaftsprojekt, ein Netzt voller Geschichten und Bilder. Ich verspreche dir: Wenn du eintauchst, wirst du bezaubert, belesen, bewundert und beseelt. Klingt dir zu abgehoben? Ok, warte, dann lass mich dir zunächst etwas zu Annette erzählen. Etwas, das sicher gut erdet.

Annette und ich haben uns per „Zufall“ kennengelernt. So hieß ein Magazin, das Wirtschaft und Spiritualität zu verbinden sich zur Aufgabe gemacht hatte. Ich leitete das Autorenteam, Annette war unsere Grafikerin. Das war 2012. Ein Jahr später gingen wir gemeinsam auf Wanderschaft. Wir trafen uns auf einer Alm im Kleinwalsertal mit anderen Gleichgesinnten zu einem Seminar. Naturverbundenheit, Körperarbeit, Satsang und gemeinsames Kochen standen im Mittelpunkt. Die Woche stand übrigens streng unter dem Motto: Go vegan! Und so erinnere ich mich, dass wir eines Nachmittags nach mehrstündiger Bergwanderung eine Rast einlegten, mit 20 Leuten in eine Berghütte einfielen, sich alle über Kräutertee und Gemüsesuppe hermachten und Annette erstmal heiße Würstchen mit Senf bestellte.

Nein, Angepasstsein ist nicht ihr’s. Sie nennt es „das Monster“. Ebenso die Erwartung an andere, die oft unausgesprochen bleibt, unterschwellig wirkt und manipuliert. „Das ist Gift!“, sagt die wilde schöne Geschichtenerzählerin  mit den riesigen Adler-Schwingen als Tattoo über ihrem Herzen. Fragst du sie danach, antwortet Annette mit einem Lied: Fly…

„Mit dieser Melodie bekommt mein Adler auf der Brust seine Flügel“, summt Annette . In einem Hotel in Istanbul sind die beiden 1978 buchstäblich schon einmal rausgeflogen. Ist lange her. Damals waren Tattoos, gerade bei Frauen, noch `ne harte Nummer.

„Aber das war mir scheiß egal“, erinnert sie sich. „Ich lieb meinen Adler! Der trägt mich! Und er hat `ne saumäßige Kraft!“

Annette webt und filzt auch individuelle Geschichten-Tücher.

Die pulsiert auch in Annette. Eine kraftvolle Mischung aus immer währendem Forschergeist, dem Willen zum Tun, schonungsloser Offenheit, Gauklerei und Spielfreude. Die Liebe zu ihren beiden Hunden, zu Bäumen, Steinen, Bergen, Seen, Sonne, Mond und ihrer roten Clownsnase ist ihre Medizin. Trägt Annette ihr weites Herz auf der Zunge, kann’s schon mal herzhaft rotzig werden. Für Scheinheiligkeit hat sie nur eines übrig: Verachtung.

Hier kommt mir eine weitere amüsante Erinnerung in den Sinn. Hin und wieder gab es auf unseren Wanderungen Menschen, die meinten, mit Feen und Elfen in Kontakt zu sein. Annette rollte dann gern mal mit ihren braunen Augen. Heute schmunzelt sie darüber. „Ja, ich hatte so etwas wie eine Engel-Allergie“, gibt sie lachend zu. „Ich entschuldige mich ganz offiziell bei allen Engeln, Feen und Elfen. Der Kontakt zum kleinen Volk ist eine sehr kostbare Sache.“

Mit einem Seminar auf Schloss Glarisegg  beginnen sich 2018 die Segel in Annettes Leben nochmal neu auszurichten. Wenige Monate später sitzt sie mit 30 anderen Frauen bei Susann Belz am Feuer, besucht vier Jahre deren Schule „Woman and Earth“.

Geschichtensammlerin mit Schweinskopf-Baumscheibe.

„Der Kreis ist die Lehrerin!“, lernt sie bei der bekannten Schamanin. Diese intensive Heil- und Bewusstseinsreise wirbelt vieles auf. Jetzt beginnen auch ihre Spirits verstärkt zu ihr zu sprechen. Annette trommelt, singt, filzt, feuert, flammt, schreit, lacht, weint, sucht und findet. „In vielen meiner Reisen mit der Absicht, zu erforschen, was meine Seelenaufgabe ist, bekam ich als Antwort, ich solle einen Ritualplatz richten, ein großes Netz spinnen. Ich richtete und schmückte einen Platz in meinem Garten, ich spann und webte ein großes Netz über den Platz, aber meine Spirits wollten mehr.“

Die Idee zu einer eigenen Internetseite nistete sich in ihrem (Sp)-Inneren ein. Als Gestalterin für Print und Webdesign schlug dazu ihr Herz selbstbewusst und immer wilder. „Außerdem hatte ich große Lust, Menschen und ihre Schätze zusammenzuführen. Nur Miteinander kann etwas Neues entstehen.“ Das war die Vision. (Einen eigenen Verlag hatte sie bereits 2009 mit ihrem Mann Peter Indergand gegründet.)

So entstand das Spinnerinnen-Netzwerk. Schau mal hier: http://www.spinnerinnen.ch

Ich erinnere mich noch gut an die helle Freude meiner Freundin zur Wintersonnenwende 2020. Am 21. Dezember ging Annettes Web-Seite begleitet von einer einmaligen Jupiter-Saturn-Konjunktion, Lagerfeuer und Trommelschlägen feierlich an den Start. Bei der Taufe (damals nur online möglich) waren Menschen aus Deutschland und der Schweiz dabei. Seither wächst diese Plattform, bietet Raum für Austausch, altes und neues Wissen, Seelennahrung, Heilendes, Schräges, Kunst, Handwerk, Naturverbundenes, Kreatives.

Und vor wenigen Tagen nun eine erneute Geburt. Das Weltenlicht fällt auf ein Buch: blutrot und leuchtend sein Einband. Damit nicht zu übersehen. Das Bild auf dem Cover erinnert an Schoßkraft, Wildheit, heilige Geometrie, Instinkt, Feuer und Anderswelt. Viele Begebenheiten, Zufälle und Synchronizitäten haben dabei der Künstlerin Brigitte Meßmer in die Hände gespielt. Das Bild spricht Bände. In Band 1 haben zunächst sechszehn Spinner:innen ihre Geschichten eingewebt: Heilerinnen, Botschafterinnen, Königinnen, Amazonen, Mütter, Töchter, Geliebte. Fünfzehn Frauen und ein Mann.

Ursula Walser-Biffiger schreibt in ihrem Klappentext: „Schräg, unkonventionell und undogmatisch, sachlich und humorvoll, leichtfüßig und tiefsinnig öffnen sich auch Themen wie Sexualität und das Mysterium der Seele. Da geht es sowohl um das Ureigene als auch um das Große Ganze. Auch darum geht es in diesem Buch: Werden und Vergehen, Aufbruch und Innehalten, Fülle und Leere, Licht und Dunkelheit. Dieser jahreszeitliche Rhythmus ist ein Spiegel für unseren eigenen Lebensweg – im Äußeren wie auch im Inneren. Die Natur ist unsere beste Lehrmeisterin und wir erfahren: mit Wurzelkraft kann Vertrauen gewonnen, können lebensbejahende Perspektiven entwickelt und im Alltag umgesetzt werden.“

Ich mag das Buch. Es liegt seit Stunden in meinem Schoß. Manchmal streichel ich seine Seiten, bin berührt und lächele. Sein Lesebändchen wandert wie ein roter Faden durch die Seiten. Es sind auch die verschiedenen Seiten meiner Seele.

Ja, ich empfehle es von Herzen. Vor allem euch, meinen mutigen irdischen Schwestern!

Es wird euch erinnern. Die Reise hat längst begonnen. Weben wir ein großes Netz. Eines, das trägt.

Buchbestellung über http://www.sanddorn-verlag.ch

Der mit dem Buch tanzt

„Alt werden ist widerlich“, behauptet Jürgen Cremer bei einem Treffen vor wenigen Tagen. „Schreib aber statt ,widerlich‘ besser ,unangenehm‘ – das klingt nicht so böse . . . obwohl es wirklich widerlich ist, glaub mir.“ Es ist jene Direktheit, auf deren Grund jedoch immer auch die Schelmenglocke klingelt, die den Menschen Jürgen Cremer ausmacht. Im Gespräch, in der Begegnung, im Leben überhaupt. Heute wird das Wismarer Urgestein 70 Jahre alt. Sein Bart – mittlerweile silbergraIMG_2486u – ist 25 Jahre jünger. „Den trage ich ununterbrochen seit 1970“, erklärt Cremer schmunzelnd. „Mein kleiner Protest nach der Armeezeit.“ Bart und Proteste werden zu seinen Markenzeichen. Ja, Widerstände haben ihm immer Spaß gemacht. „Die Genossen ärgern“ war für den Kommissionshändler Cremer zu DDR-Zeiten fast wie ein Sport. „Ich mochte dieses Land nicht“, gibt er rückblickend zu. Dafür liebt er Bücher. Damals vor allem die von Christa Wolf, Stefan Heym, Ulrich Plenzdorf, Hermann Kant, Jürgen Borchert oder Erich Loest. Er verkauft nicht nur deren Geschichten auf einem Strandkarren, aus einem alten B 1000 heraus oder in seinem Büchereck in der Dankwartstraße, sondern holt jene intellektuellen Widerspenstigen des Ostens allesamt nach Wismar. „Ich habe halt Lesungen gemacht mit Leuten, die mir passten“, erinnert sich der Wismarer. „An Heym habe ich bestimmt vier, fünf Jahre gearbeitet“, sagt er. Cremers Beharrlichkeit wird belohnt. Mit Stefan Heym, dem bekannten Schriftsteller und Bürgerrechtler, quatscht er im März 1979 schließlich bis tief in die Nacht. Das bringt ihm neben viel Inspiration auch eine Hausdurchsuchung der Stasi ein. Für Ulrich Plenzdorf kriegt er zwei Jahre Mensa-Verbot. „Mensch, das hat Spaß gemacht“, sagt Jürgen Cremer, zieht genüsslich an seiner Zigarette und grinst in sich hinein. Angst? „Nein, die hab ich nie wirklich gehabt“, beantwortet er die Frage nach kurzem Zögern. „Ich wollte immer wissen, wie weit ich gehen kann.“ Nach der Wende wird Cremer Wismars erster frei gewählter Kultursenator. „Das waren vier aufregende Jahre in der Bürgerschaft“, erzählt er anerkennend. „Keiner hatte Ahnung, wie es geht, doch wir waren voll und ganz bei der Sache.“ Von „Rosi“ alias Rosemarie Wilcken übernimmt er einen Tag lang sogar das Bürgermeisteramt. Eine Urkunde über diesen Deal hängt jahrelang in seinem Büchereck. Nein, tauschen möchte er aktuell auf gar keinen Fall mit den lokalen Politikern. „Heute lasse ich mich regieren“, frotzelt er. Seit fünf Jahren ist Jürgen Cremer Rentner. „Bisher hatte ich noch nicht eine Minute Langeweile“, gibt er zu. Vor allem die Maulwürfe auf seinem Gartengrundstück in Moidentin halten ihn auf Trab. Viel Zeit verbringt er hier: harkt, grubbert, baut, sortiert, liest und genießt. „Ich habe mich hier schon als Kind sehr wohl gefühlt“, schmeichelt Cremer seinen 800 Quadratmetern Land direkt am Wallensteingraben. Die kleine Oase in direkter Nachbarschaft zum Moidentiner Bahnhof hat er von seinem Großvater übernommen. Von ihm, Martin Pusch, übernimmt er 1972 auch den Papier- und Buchdruckladen in der damaligen Karl-Liebknecht-Straße. Bereits als Knirps lochte er dort die Lottoscheine der Kunden. Journalist wäre er gern geworden, erzählt Jürgen Cremer – oder Innenarchitekt, Tischler, Seefahrer. Das Leben entscheidet anders. Er bleibt im Familienunternehmen, lernt Handelskaufmann. Mitte der 70er-Jahre lässt er sich dann in Leipzig zum Buchhändler ausbilden. Die Bücherwelten von Hartpappe, Reclam, Hinstorff und Co. sind sein Element. „Mit Aalfisch, reichlich rotem Wein und weiteren Mätzchen“ kommt der Wismarer immer wieder an Exportreserven und Titel, von denen andere Buchhändler im Osten damals nur träumten. Außerdem hätte ohne ihn damals wohl niemand in Wismar je eine Bibel gekriegt. „Ich war immer ein beweglicher Mensch“, lautet Cremers Selbsteinschätzung im Rückspiegel. „Heute hat jeder alles“, sinniert er. Lange spürt er dem eigenen Satz nach. Dann sagt er: „Manchmal wünsche ich mir den Mangel zurück. Ganz ehrlich, dieses widerliche Überangebot an jeder Ecke kotzt mich an.“ Klare Worte von einem, der schon zu Mauerzeiten per Dauervisum in den Westen reisen durfte. Konsum hat ihn dabei nie sonderlich interessiert. Wir reden über Werte. Die eigenen zu reflektieren, lässt er sich Zeit. „Soziale Gerechtigkeit“, sagt er schließlich nach einer Pause. Ein Grund, warum er 1990 in Wismar als einer der Ersten in die SPD eintritt. Sein Mitgliedsbuch trägt die Nummer 14. „Ja, kann ich so stehen lassen“, setzt er noch mal nach. Ungerechtigkeit mag ich überhaupt nicht.“ Mag er sich selbst? Auch darüber redet Jürgen Cremer. „Ich bin wohl nicht der, den ich oft gegeben habe“, spricht er einige Gedanken offen aus, die nach einem intensiven Leben immer mal wieder im Kopf kreisen. Altersweisheit mit 70? „Davon merke ich nicht viel“, lacht er. „Jedenfalls wünsche ich mir, dass ich noch lange wach und gesund bleibe.“ Vor zehn Jahren zum 60. Geburtstag war er mit seiner Frau Sybille in New York. Und heute? „Ich soll nüchtern und pünktlich zu einer Feier erscheinen, die Freunde und Weggefährten für mich organisiert haben. Ich bin dort nur Gast.“Ich wollte immer wissen, wie weit ich gehen kann. Angst? Nein, hab ich nie gehabt.“JürgenCremer, Wismarer Urgestei
„ hab ich nie wirklich gehabt“, beantwortet er die Frage nach kurzem Zögern. „Ich wollte immer wissen, wie weit ich gehen kann.“ Nach der Wende wird Cremer Wismars erster frei gewählter Kultursenator. „Das waren vier aufregende Jahre in der Bürgerschaft“, erzählt er anerkennend. „Keiner hatte Ahnung, wie es geht, doch wir waren voll und ganz bei der Sache.“ Von „Rosi“ alias Rosemarie Wilcken übernimmt er einen Tag lang sogar das Bürgermeisteramt. Eine Urkunde über diesen Deal hängt jahrelang in seinem Büchereck. Nein, tauschen möchte er aktuell auf gar keinen Fall mit den lokalen Politikern. „Heute lasse ich mich regieren“, frotzelt er. Seit fünf Jahren ist Jürgen Cremer Rentner. „Bisher hatte ich noch nicht eine Minute Langeweile“, gibt er zu. Vor allem die Maulwürfe auf seinem Gartengrundstück in Moidentin halten ihn auf Trab. Viel Zeit verbringt er hier: harkt, grubbert, baut, sortiert, liest und genießt. „Ich habe mich hier schon als Kind sehr wohl gefühlt“, schmeichelt Cremer seinen 800 Quadratmetern Land direkt am Wallensteingraben. Die kleine Oase in direkter Nachbarschaft zum Moidentiner Bahnhof hat er von seinem Großvater übernommen. Von ihm, Martin Pusch, übernimmt er 1972 auch den Papier- und Buchdruckladen in der damaligen Karl-Liebknecht-Straße. Bereits als Knirps lochte er dort die Lottoscheine der Kunden. Journalist wäre er gern geworden, erzählt Jürgen Cremer – oder Innenarchitekt, Tischler, Seefahrer. Das Leben entscheidet anders. Er bleibt im Familienunternehmen, lernt Handelskaufmann. Mitte der 70er-Jahre lässt er sich dann in Leipzig zum Buchhändler ausbilden. Die Bücherwelten von Hartpappe, Reclam, Hinstorff und Co. sind sein Element. „Mit Aalfisch, reichlich rotem Wein und weiteren Mätzchen“ kommt der Wismarer immer wieder an Exportreserven und Titel, von denen andere Buchhändler im Osten damals nur träumten. Außerdem hätte ohne ihn damals wohl niemand in Wismar je eine Bibel gekriegt. „Ich war immer ein beweglicher Mensch“, lautet Cremers Selbsteinschätzung im Rückspiegel. „Heute hat jeder alles“, sinniert er. Lange spürt er dem eigenen Satz nach. Dann sagt er: „Manchmal wünsche ich mir den Mangel zurück. Ganz ehrlich, dieses widerliche Überangebot an jeder Ecke kotzt mich an.“ Klare Worte von einem, der schon zu Mauerzeiten per Dauervisum in den Westen reisen durfte. Konsum hat ihn dabei nie sonderlich interessiert. Wir reden über Werte. Die eigenen zu reflektieren, lässt er sich Zeit. „Soziale Gerechtigkeit“, sagt er schließlich nach einer Pause. Ein Grund, warum er 1990 in Wismar als einer der Ersten in die SPD eintritt. Sein Mitgliedsbuch trägt die Nummer 14. „Ja, kann ich so stehen lassen“, setzt er noch mal nach. Ungerechtigkeit mag ich überhaupt nicht.“ Mag er sich selbst? Auch darüber redet Jürgen Cremer. „Ich bin wohl nicht der, den ich oft gegeben habe“, spricht er einige Gedanken offen aus, die nach einem intensiven Leben immer mal wieder im Kopf kreisen. Altersweisheit mit 70? „Davon merke ich nicht viel“, lacht er. „Jedenfalls wünsche ich mir, dass ich noch lange wach und gesund bleibe.“ Vor zehn Jahren zum 60. Geburtstag war er mit seiner Frau Sybille in New York. Und heute? „Ich soll nüchtern und pünktlich zu einer Feier erscheinen, die Freunde und Weggefährten für mich organisiert haben. Ich bin dort nur Gast.“

 

Steffen am Meer

Steffen und ich waren heute am Meer. Ich hatte es ihm bei unserem ersten Treffen ja spontan angeboten. Wir waren auf der Insel Poel und als das Wasser in Sicht kam, meinte er: „Puh! Jetzt fängt mein Herz an zu bubbern…“
Wie schön! Denn eigentlich wollte sich Steffen hier das Leben nehmen. Es kam alles anders. (Die Geschichte findet ihr auch hier auf meinem Block.) Er hat jetzt eine eigene Wohnung. Noch vollkommen leer. Irgendwie trostlos. Es fehlt an allem. Das Campingbett auf dem er schläft, macht ihn wahnsinnig. „Viel zu weich! Ich brauche unbedingt ein hartes Bett“, hat er mir heute verzweifelt erzählt. Und alles sei so still. „Mir fehlen die Geräusche, das Vogelgezwitscher.“
Zehn Jahre auf der Straße – die Umgewöhnung fällt schwer. Er fragt mich bei meinem Besuch, wie die Gegensprechanlage überhaupt funktioniert, welcher Knopf für was? Wir haben heute viel gelacht. Vor unserem Ostsee-Trip waren wir noch bei einer Frau M. am Ostseeblick, die sich auf meinen Artikel über Steffens Schicksal in der OZ gemeldet hat. Sie hatte Handtücher, Bettwäche und sehr hübsche Sammeltassen für Steffen bereit gelegt. Über die Sammeltassen mit Goldrand haben wir echt gekichert. Steffen: „Da glaubt mir doch jetzt keiner mehr, dass ich ein Obdachloser bin…“ Frau M. spendierte auch noch eine Bratpfanne. Sie hielt Steffen dann einen Vortrag, dass dies eine besondere Pfanne sei und man darin nicht mit Messer und Gabel kratzen darf. „Teflon“, mische ich mich ein. Steffen schaut entgeistert. Und da holt Frau M. aus der Küche einen Holzlöffel, den sie noch obendrauf packt. „So. Der ist auch noch für sie. Den können Sie nehmen. Da bleibt die Pfanne heil.“  Steffen schenkt der netten hilfsbereiten Dame am Schluss eine Umarmung. Sie kommt uns dann sogar noch einmal bis zum Auto hinterhergelaufen und bietet ein Salatbesteck an. Steffen bedankt sich sehr höflich und erklärt, dass er ja noch keine Schüssel habe… für den Salat.
Das Leben ist kurios. Und bunt. Und wirklich unübertroffen einmalig.

Ein paar Momente braucht Steffen ganz für sich.

Kindheitserinnerungen…..