Von Grashalmen lernen

Eine Fidel klingt an diesem Nachmittag durch die kahlen Bäume im Dörfchen Fahren. Felix aus Berlin streicht den Bogen. Unter freiem Himmel, trotz Kälte. Die anderen hacken Holz. Livemusik hebt in jedem Falle den Spaß-Faktor. Mit Schubkarren transportieren Jungs und Mädels ausgelassen dicke Holzscheite über den matschigen Hof, Späne fliegen, eine Katze flüchtet auf die Dorfstraße. Felix improvisiert dazu. Bewegung an frischer Luft ist Teil der Visionssuche, zu der sich junge Menschen hier zusammengefunden haben.
Eine ganz eigene Sinfonie entsteht so abseits des städtischen Trubels im Landkreis Nordwestmecklenburg. Ein Tanz der Ideen – eben auch jene, dass eine Geige sechs Äxte begleitet. „Ich bin mit dem Grashalm groß geworden“, erzählt Felix. Für den 25-Jährigen sind Theater und Zirkus eine große Leidenschaft. Auch nach seinem Umzug nach Berlin bleiben Projektkooperationen mit dem Verein an der Küste bestehen. Noch ist Winter in Fahren. Einige Touren finden auch im Schnee statt – Niedere Tatra, Julische Alpen – dennoch ging es in den vergangenen Monaten vor allem um Anträge, Ideen, Konzepte, Weiterbildungen und darum, immer wieder „Holz zu machen“. Der nachhaltige Rohstoff aus der Gegend wärmt die Arbeit der Menschen im Verein. „Wenn wir unsere Muskelkraft einsetzen, können wir unseren riesigen Gebäudekomplex umgerechnet mit 500 Euro im Jahr heizen. Sonst bräuchten wir sicher 5000“, erklärt Horst Weinlich, Vereinsvorsitzender, Mentor, Tischler, Arzt und  Gesellschafter. Der 53-Jährige ist erfahrener Grashalm-Aktivist und bewusster Abenteurer. Im Austausch mit dem Göttinger Neurobiologen Prof. Gerald Hüther planen er und einige Unterstützer zum Beispiel gerade ein Wildnisschulprojekt in Sibirien. Dort betreibt der Verein ein ständiges Camp. Teilnehmer lernen, wie man ein Kanu baut, sich ohne Supermarktprodukte unter freiem Himmel ernährt oder eine Jurte errichtet. Leben in der Wildnis ist als Lern-Angebot immer mehr gefragt. Grashalme, Berge und Täler als Lehrer eröffnet neue Perspektiven, Sichtweisen und Felder. Die eigenen Grenzen werden in der Natur oft spürbarer, sie auszutesten und zu erweitern macht stark. Das setzt in den jungen Leuten heilende und visionäre Kräfte frei. Nicht nur in Sibirien. Mit Projekten hinterließ der Verein bereits Spuren in Polen, England, der Schweiz, in Frankreich, Rumänien, Slowenien, Kroatien, Russland und der Ukraine.
 „Junge Leute zu befördern und mit ihnen herauszufinden, was sie wirklich in und für diese Welt wollen ist für uns ein essenzielles Thema“, erklärt Horst Weinlich. Er und seine Mitstreiter bieten Raum und Zeit für junge Menschen auf der Suche nach ihrem individuellen Platz im großen Ganzen. Der Verein hat eine Lizenz für eine internationale Jugendleiterausbildung (JULEICA) im Bereich Abenteuerpädagogik. Außerdem hat sich der „Grashalm“ als Entsende- und Empfangsorganisation für den Europäischen Freiwilligendienst etabliert.
Nasila zum Beispiel kam im Mai letzten Jahres über den Europäische Freiwilligendienst zum Grashalm-Projekt. „Zu viel Schule, zu viel lernen“, beschreibt sie ihren Alltag der letzten zehn Jahre. In Prag hat sie Wirtschaft und Finanzmanagement studiert. Nach gutem Abschluss dann ein großes Fragezeichen. Was nun? „Ich brauchte erstmal eine Pause“, erinnert sich Nasila. „Ich wollte unbedingt etwas Neues erleben, etwas machen, was ich noch nie zuvor gemacht habe. So etwas, wo ich nicht weiß, was im nächsten Augenblick auf mich zukommt… Ein Abenteuer!“, fasst die 28-Jährige ihre Sehnsüchte mit einem tiefen Atemzug zusammen. „Ich bin dankbar, dass mir in den letzten Monaten klar geworden ist, dass ich anderen Menschen helfen möchte, auch etwas Neues zu probieren. Gemeinsam können wir viel schaffen – ’to make the world a better place’“. In Fahren und auf Reisen lebt Nasila seit Mai letzten Jahres Gemeinschaft mit allen Höhen und Tiefen, sie lernte segeln, malt, gärtnert, diskutiert, kocht, wandert, lernt die deutsche Sprache und entdeckt immer neue Möglichkeiten, ihren Tag kreativ zu gestalten. Zum Wohle aller. Ob sie jemals in die Welt der Zahlen und Finanzen zurückkehren wird, weiß Nasila noch nicht. Eines jedoch ist sicher, die neuen Lernräume und Erfahrungen innerhalb der Grashalm-Projekte haben sie nachhaltig geprägt.
Georg wollte unbedingt schmieden lernen. Mit viel Langeweile und Frust hat sich der 21-Jährige vor drei Jahren durch das Abi gequält. „Wohl auch, um meine Eltern nicht zu enttäuschen“, gibt er in unserem Gespräch offen zu. „Meinen eigenen Kindern möchte ich dieses Bildungssystem jedoch später nicht zumuten“, reflektiert er. Immer deutlicher spürt Georg nach der Schule die Sehnsucht nach einem Ort, an dem er lernen und forschen kann, ohne in eine Form gepresst zu werden. Mit einem Freiwilligen Ökologischen Jahr beim ‚Grashalm’ trifft er im Juni 2011 ins Schwarze. „Hier hab ich seither jenen Raum für mich gefunden, in dem ich mich kreativ entfalten kann“, erzählt der gebürtige Sachse. Nach einer Teamleiterausbildung für Internationale Jugendcamps und Workshops in Bogenschießen, Strohballenhausbau und Schmieden, steigt Georg jetzt in die Bildhauerei ein. „Das Grashalm-Projekt ist mein Lebensmittelpunkt geworden“, erzählt er. „Dieser Ort schließt alles mit ein. Ich gebe etwas, ich nehme etwas. Da ist ein angenehmes stimmiges Verhältnis. Ich möchte in diesem Jahr eigene soziale Projekte starten. Für mich erfüllt sich damit die Vorstellung von ‚seine Arbeit sinnvoll und ganzheitlich zu leben’.“
Horst Weinlich ist in diesem bunten Miteinander jemand, der dort unterstützt, wo es gerade nötig ist. „Junge Leute brauchen Partner, die nicht in Front vor ihnen stehen, sondern an ihrer Seite“, so der erfahrene Mentor. „Ich bin jemand, der sie respektiert, machen lassen kann und ihnen Freiräume zugesteht, in denen sie auch scheitern dürfen. Zugegeben, das ist auch für mich oft nicht leicht auszuhalten. Was mir hilft, ist dann das Wissen darum, wie wertvoll eben auch diese Erfahrungen sind.“
Georg erinnert sich an eine Situation. „Es war im Sommer. Unser Segelboot war gekentert und hatte ein Loch. Horst hat mich dann beauftragt, es zu reparieren. Er hat mir ein paar Tipps und Telefonnummer gegeben und fuhr dann selbst nach Sibirien. Ich hatte noch nie zuvor ein Segelboot repariert. Das war schon eine heftige Situation. Es war anstrengend, eine echte Herausforderung und hat auch gut zwei Wochen gedauert. Doch ich hab’s gepackt. Das Boot ist wieder klar. Ein irres Gefühl.“
Rund um den Grashalm gibt es viele dieser Geschichten. Nicht alle haben ein schnelles Happy End, was sie deshalb nicht weniger wertvoll macht.  „Die Indianer sagen, Jetzt ist immer die richtige Zeit, um erwachsen zu werden. Und wie Nietzsche schon formulierte, manchmal braucht es etwas Chaos in der Seele, um einen tanzenden Stern zu gebähren“, so der Vereinsvorsitzende.
Mit ihm und seinem Kernteam wollen „junge Grashalme“ auch 2013 wieder viele Projekte anschieben. So gibt es erstmals Begegnungen mit der Lebensgemeinschaft in Findhorn, ein Sommerprojekt mit der Hochschule für nachhaltige Entwicklung in Eberswalde, Gartenarbeit im März, ein Kutterprojekt und Werkstattschule im April, ein internationales Teenager-Camp im Juni in Sibirien, einen geplanten Waldkindergarten und Begegnungen mit jugendlichen Straftätern, Kletter-Klausur-Wochen, Lastenrad- und Backofenbau und noch so vieles mehr. Die Sinfonie der Ideen wird immer hörbarer. Ein Ende braucht sie nicht, auch weder fertige Noten noch ein passives Publikum, das Beifall spendet, sondern vielmehr lebendige Musiker, die Lust haben, Mensch zu sein und ihre eigenen Töne aktiv mit in das große Orchester einzuspielen. Es darf dazu frei getanzt werden.
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