Sag Ja zum Nein

Die Basis eines guten Selbstwertgefühls ist die Fähigkeit, nein zu sagen, wenn wir nein meinen. Selbstliebe und die Liebe zu anderen beginnt mit der Kunst der gesunden Abgrenzung, denn das Nein zu dem, was für uns nicht stimmt, ist das Ja zu uns selbst. Ich habe am Wochenende eine ganz und gar unvollständige Nein-Liste (Download hier oder siehe im Anschluss an den Beitrag) zusammengeschrieben, die meine Leser inspirieren möge. Wozu? Nicht zu allem „Ja und Amen“ zu sagen. Du kannst die Liste kürzen, erweitern, umschreiben. Nimm dir, was zu dir passt. Den Rest hau‘ hinten rüber. Die Frage “Ich oder der andere zuerst?” braucht nämlich eine entschiedene Antwort –  ansonsten können wir jeden echten persönlichen Fortschritt vergessen, egal wie wir uns sonst ins Zeug legen, in uns „putzen und aufräumen“. Ganz einfach, weil in dieser Antwort unsere eigene Kraft liegt. Entweder wir nehmen sie zu uns oder wir geben sie ab. Je mehr wir auf Bestätigung im Außen schielen, je mehr wir anderen die Macht zugestehen, darüber zu entscheiden, ob wir doch irgendwie ok und liebenswert sind, desto schwächer und ohnmächtiger fühlen wir uns. Unser Potential ist gebunden. Erst, wenn wir das Nein gleichberechtigt und bewusst integriert haben, spüren wir wieder ganz konkret, wo zum Beispiel Rücksicht angebracht ist oder Rebellion oder Sinn für Humor oder lebendiger Zorn oder wo hundert Prozent Gradlinigkeit den anderen vielleicht überfordern würde. Ja, dann erst fühlen wir wahrhaft mit. Wer ohne Scham, Schleimerei und schlechtes Gewissen nein sagen kann, muss sich nicht mehr verbiegen. Er ist in Kontakt mit sich und seiner inneren Wahrheit und Würde. Einer meiner wichtigsten Sätze, die ich in den letzten 24 Stunden gelesen habe, lautet: “ Integrierte Aggression ist einfach Klarheit.“ Warum er für mich so wichtig ist? Weil immer, wenn ich mich verbogen habe – aus Angst, nicht zu genügen oder andere zu enttäuschen – sich früher oder später Frust und Aggression durch mich manifestiert haben. Ich wurde unzufrieden, launisch und wütend, habe verletzende und grobe Sachen gesagt, nicht mehr zugehört, Türen geknallt, Sachen zerschmissen und gehörig Dampf abgelassen. Heute weiß ich, dieser Dampf waren all die faulen Kompromisse, denen wohl jeder Mensch auf seinem Weg begegnet. Es waren all die verpufften Gelegenheiten zur Selbstliebe. Die einen reagieren mit Dampf, andere mit Rückzug und Depression. Manche Menschen lachen, wenn ihnen eigentlich eher zum Heulen zumute ist und wieder andere ziehen sich gewohnheitsmäßig Alltagsdrogen rein… Wir alle haben Mittel und Wege gefunden, die Leere in unserem Inneren zu kompensieren. Hingegen immer dann, wenn wir eine klare Entscheidung treffen, wenn wir uns quasi selbst definieren, Position beziehen, uns ausrichten…. weitet sich unsere Perspektive, unser Potential und unser Herz. Auch das bedeutet erwachen. Erwachen für den Weg der Heilung. Und wem das verbal schon zu heilig ist…. Es gibt einen herrlichen Spruch von Marc Allen, der einmal trefflich sagte: „Lass den Scheiß und mach, was dran ist!“ Fühlt sich gut an, oder?! Will sagen, ein authentisches Nein zu Blödsinn und Gewohnheit, kann enorm helfen, den Boden unter den eigenen Füßen wieder zu spüren. Nährboden. Endlich. Ja.

Meine (unvollständige) Nein-Liste

Was ich nicht mehr mache…

  • Mich abhetzen.
  • Morgens aus dem Bett springen. Ich lasse mir Zeit, die ich brauche, um den Tag ruhig und entspannt zu beginnen.
  • Ohne Haustiere leben.
  • Kompromisse schließen zu Lasten meiner Bedürfnisse, um mit jedem Frieden zu halten.
  • Fleisch essen.
  • Meinem kritischen Verstand alles glauben, was er mir als vermeintliche Wahrheit verkauft.
  • Mit Leuten streiten, die debattieren als Sport betrachten.
  • Meine Kreditkarten einsetzen, sofern ich die Abrechnung nicht vollständig zum Monatsende begleichen kann.
  • Etwas, was ich nicht mag oder brauche, bei mir zu Hause aufbewahren.
  • X-mal am Tag meinen Facebook-Account checken.
  • Den Mund halten, wenn jemand sich daneben benimmt.
  • Im Sommer Schuhe tragen, wenn barfuß laufen schöner ist.
  • Über Regen und schlechtes Wetter motzen.
  • Zu Events gehen, bei denen stundenlang nur sinnlos geschwatzt wird.
  • Klatsch tolerieren oder daran teilnehmen.
  • Aus Bequemlichkeit Fastfood essen, statt Zeit zu investieren, mir bewusst, ein gutes Mahl zu bereiten.
  • Mit schwierigen Lebenssituationen allein fertig werden.
  • Jemanden engagieren – sei es ein Anwalt, ein Arzt, ein Gesundheitsdienstleister oder was/wer auch immer, der mich respektlos behandelt.
  • Während der Mahlzeiten Telefonate annehmen.
  • Verbale Übergriffe von einem Vorgesetzten oder Mitarbeiter hinnehmen.
  • Zur Arbeit gehen, wenn ich krank bin.
  • Meine Meinungen für mich behalten, wenn sie mit denen der anderen im Raum nicht übereinstimmen.
  • Mir von sozialen Normen diktieren lassen, wofür ich mich interessieren sollte, sei es Kleidung, Essen, Kunst, Musik und dergleichen. Ich mag das, was ich mag.
  • Zeit in Beziehungen investieren, die nicht damit harmonieren, wer ich bin und wer ich sein will.
  • Nicht sinnvolle Verpackungen in Restaurants, Geschäften etc. akzeptieren.
  • Bücher, an denen ich die Lust verloren habe, zu Ende lesen.
  • Werbepost mit ins Haus nehmen (vor meiner Tür steht eine Papiertonne).
  • Mich verpflichtet fühlen, Zeit mit Familienmitgliedern oder Freunden verbringen, die sich für ein dauerhaft chaotisches, uninspiriertes oder langweiliges Leben entschieden haben.
  • Mich schlecht dabei fühlen, Nein zu sagen, wenn ein Nein das Beste für mich ist.
  • Im Geiste bei der Arbeit verweilen, wenn ich nicht arbeite.
  • Mir von Fernsehsendern vorschreiben lassen, wann ich meine Lieblingsshows ansehen soll (es gibt Mediatheken oder die Möglichkeit, Sendungen aufzuzeichnen).
  • Mein E-Mail-Programm auf den automatischen Empfang neuer Nachrichten einstellen. Ich entscheide, wann ich meine Mails bekomme.
  • Kleidungsstücke aufbewahren, von denen ich hoffe, dass sie mir „irgendwann“ passen.
  • Irgendwas wegwerfen, was recycelt werden kann.
  • Autos kaufen, die nicht treibstoffsparend sind.
  • Zeit mit Leuten verbringen, die zu mir reden statt mit mir.
  • Die Gefühle anderer wichtiger nehmen als meine eigenen.
  • Diskutieren statt konsequent handeln und umsetzen.
  • Die Schuld bei anderen suchen.
  • Männern (vor allem im Business) für verantwortliche Positionen den Vortritt lassen.
  • Annehmen, dass – nur wenn ich perfekt funktioniere, ich Anerkennung und Lob verdiene.
  • Mich in Dramen anderer Menschen verwickeln.
  • Einem äußeren Guru folgen.
  • Dinge, die mir gut tun, auf die lange Bank schieben.
  • Mir Sorgen um das liebe Geld machen. (Sorgen hat man nicht, man muss sie sich schon machen.)
  • Zu glauben, wenn ich zuerst an mich denke, wäre das egoistisch.
  • Zu glauben, dass nur das, was ich anfassen kann, auch real ist.
  • Zulassen, dass andere meinen Wert bestimmen. (Selbstwert kommt von innen.)
  • Viel zu spät ins Bett gehen.
  • Mich zu Konkurrenz zu anderen Frauen/Männern anstiften lassen.
  • Stärke mit Härte verwechseln.
  • Konflikten aus dem Weg gehen… um des lieben (Schein-) Frieden willens.
  • Lachen, wenn ich lieber ernst bleiben möchte. Und ernst bleiben, wenn ich ein Lachen in mir fühle.
  • Mich mit Musik oder anderen Geräuschen ablenken, wenn mir nach Stille ist.

(Liste inspiriert durch Cheryl Richardson „Sei dir wichtig!“)

Vom Streiten

Gerade sprach ich mit Imad Ousaouri aus Agadir über die deutsche Sprache, Muslime, Integration, Frieden, die Araber, schönes Wetter, Kamele, Respekt, Gott, die Welt und Gewürze. Was man als neugierige Journalistin einen marokkanischen Landsmann halt alles so fragt. Mit einem Zwinkern will ich von dem 28-jährigen Nordafrikaner (er lebt seit letztem April in der Hansestadt Wismar) schließlich auch wissen, ob er denn auf deutsch auch schon streiten kann. Er lacht. Dann seine Antwort, die mich fasziniert…. 

Die Skizze von Imad.

Wort-Art: Skizze von Imad.

Imad sagt, dass Streit in jeder Sprache im Grunde ganz einfach ist. Dann nimmt er einen Skizzenblock, denkt kurz nach und zeichnet etwas. Imad vergleicht ein gutes Wort mit einem Backstein. „Schau“, sagt er. „Gute Worte sind wie Backsteine. Du kannst sie zusammensetzen, Schritt für Schritt… und zum Beispiel ein Haus daraus bauen. Das braucht Zeit und auch ein bisschen Anstrengung. Ein schlechtes Wort hingegen ist… wie sagt man…???“ (Imad malt… und wir einigen uns dann lachend auf „Abrissbirne“). „Genau“, sagt er. „Ein schlechtes Wort ist wie eine Abrissbirne. Nur ein (!) einziges Wort genügt, um ein ganzes Haus einstürzen zu lassen. Verstehst du? Das meine ich mit: Streiten ist leicht!“

Lernen & Teilen

Arno Gruen: In einer Verhaltensstudie bei einem Volk in Guinea zeigte sich folgendes: Ein vierjähriger Junge bekommt ein Stück Brot. Seine zweijährige Schwester will, dass er etwas abgibt. Er gibt es ihr natürlich nicht, denn in seiner Wahrnehmung ist es seins. Sie fängt an zu weinen. Er fängt an zu weinen. Die Mutter kommt auf die Kinder zu, die jetzt lächeln. Sie nimmt dieses Stückchen Brot, teilt es in zwei. Na, was tut sie?

Sie verteilt es an beide?

Arno Gruen: Nein, typisch europäisch gedacht. Sie gibt dem Jungen beide Teile zurück. Der guckt in seine Hand – plötzlich hat er zwei Stückchen – dann steckt er das eine davon in den Mund und gibt das andere von sich aus der Kleinen. Da wir in unserer Sozialisation glauben, Kinder könnten von sich aus nicht teilen, hätten wir das Brot selbst an beide Kinder verteilt. Gelernt hätte das Kind daraus nichts, denn es muss hinnehmen. Ich fürchte, unsere Kultur engt uns von Anfang an ein und treibt uns weg von dem, was wir sein könnten.

Unangepasst macht kreativ

Vor Kurzem wurde eine großartige Studie über unangepasstes Denken vorgestellt. Unangepasstes Denken ist nicht dasselbe wie Kreativität. Aber es ist eine wichtige Voraussetzung für Kreativität. Es ist die Fähigkeit, viele mögliche Antworten auf eine Frage zu sehen. Viele Arten, eine Frage zu interpretieren und die Fähigkeit, nicht nur linear oder eindimensional zu denken. Der Test untersuchte 1.500 Personen. Das Testprotokoll sah vor: Ab einer gewissen Punktezahl galt man als Genie im unkonventionellen Denken.

Wie viele der 1.500 Testpersonen erreichten das Niveau eines Genies im unkonventionellen Denken?

Alter: 3 – 5 Jahre
98 % erreichen das Level genial.

Es war eine Langzeitstudie. Man testete dieselben Kinder fünf Jahre später. Im Alter von 8 – 10.

Alter: 8 – 10 Jahre
32 % erreichen das Level genial.

Man testete dieselben Kinder fünf Jahre später. Im Alter von 13 – 15. Alter: 13 – 15 Jahre

10 % erreichen das Level genial.
Man testete 200.000 Erwachsene ab 25 Jahren, nur zur Kontrolle.

Alter: 25+ Jahre
2 % erreichen das Level genial.

Dies zeigt zwei Dinge. Erstens: Wir alle haben diese Fähigkeit. Zweitens: Meistens verkümmert sie. Viel ist mit den Kindern passiert, als sie heranwuchsen. Eines der wichtigsten Dinge, davon bin ich überzeugt, ist, dass sie ausgebildet wurden. Sie gingen zehn Jahre zur Schule, wo man ihnen sagte, es gäbe nur EINE Antwort. Nicht, dass die Lehrer das so wollen, aber es passiert eben auf diese Weise. Es liegt im Selbstverständnis des Bildungssystems.

Sir Ken Robinson
in ALPHABET, dem neuen Film von Erwin Wagenhofer

Von Grashalmen lernen

Eine Fidel klingt an diesem Nachmittag durch die kahlen Bäume im Dörfchen Fahren. Felix aus Berlin streicht den Bogen. Unter freiem Himmel, trotz Kälte. Die anderen hacken Holz. Livemusik hebt in jedem Falle den Spaß-Faktor. Mit Schubkarren transportieren Jungs und Mädels ausgelassen dicke Holzscheite über den matschigen Hof, Späne fliegen, eine Katze flüchtet auf die Dorfstraße. Felix improvisiert dazu. Bewegung an frischer Luft ist Teil der Visionssuche, zu der sich junge Menschen hier zusammengefunden haben.
Eine ganz eigene Sinfonie entsteht so abseits des städtischen Trubels im Landkreis Nordwestmecklenburg. Ein Tanz der Ideen – eben auch jene, dass eine Geige sechs Äxte begleitet. „Ich bin mit dem Grashalm groß geworden“, erzählt Felix. Für den 25-Jährigen sind Theater und Zirkus eine große Leidenschaft. Auch nach seinem Umzug nach Berlin bleiben Projektkooperationen mit dem Verein an der Küste bestehen. Noch ist Winter in Fahren. Einige Touren finden auch im Schnee statt – Niedere Tatra, Julische Alpen – dennoch ging es in den vergangenen Monaten vor allem um Anträge, Ideen, Konzepte, Weiterbildungen und darum, immer wieder „Holz zu machen“. Der nachhaltige Rohstoff aus der Gegend wärmt die Arbeit der Menschen im Verein. „Wenn wir unsere Muskelkraft einsetzen, können wir unseren riesigen Gebäudekomplex umgerechnet mit 500 Euro im Jahr heizen. Sonst bräuchten wir sicher 5000“, erklärt Horst Weinlich, Vereinsvorsitzender, Mentor, Tischler, Arzt und  Gesellschafter. Der 53-Jährige ist erfahrener Grashalm-Aktivist und bewusster Abenteurer. Im Austausch mit dem Göttinger Neurobiologen Prof. Gerald Hüther planen er und einige Unterstützer zum Beispiel gerade ein Wildnisschulprojekt in Sibirien. Dort betreibt der Verein ein ständiges Camp. Teilnehmer lernen, wie man ein Kanu baut, sich ohne Supermarktprodukte unter freiem Himmel ernährt oder eine Jurte errichtet. Leben in der Wildnis ist als Lern-Angebot immer mehr gefragt. Grashalme, Berge und Täler als Lehrer eröffnet neue Perspektiven, Sichtweisen und Felder. Die eigenen Grenzen werden in der Natur oft spürbarer, sie auszutesten und zu erweitern macht stark. Das setzt in den jungen Leuten heilende und visionäre Kräfte frei. Nicht nur in Sibirien. Mit Projekten hinterließ der Verein bereits Spuren in Polen, England, der Schweiz, in Frankreich, Rumänien, Slowenien, Kroatien, Russland und der Ukraine.
 „Junge Leute zu befördern und mit ihnen herauszufinden, was sie wirklich in und für diese Welt wollen ist für uns ein essenzielles Thema“, erklärt Horst Weinlich. Er und seine Mitstreiter bieten Raum und Zeit für junge Menschen auf der Suche nach ihrem individuellen Platz im großen Ganzen. Der Verein hat eine Lizenz für eine internationale Jugendleiterausbildung (JULEICA) im Bereich Abenteuerpädagogik. Außerdem hat sich der „Grashalm“ als Entsende- und Empfangsorganisation für den Europäischen Freiwilligendienst etabliert.
Nasila zum Beispiel kam im Mai letzten Jahres über den Europäische Freiwilligendienst zum Grashalm-Projekt. „Zu viel Schule, zu viel lernen“, beschreibt sie ihren Alltag der letzten zehn Jahre. In Prag hat sie Wirtschaft und Finanzmanagement studiert. Nach gutem Abschluss dann ein großes Fragezeichen. Was nun? „Ich brauchte erstmal eine Pause“, erinnert sich Nasila. „Ich wollte unbedingt etwas Neues erleben, etwas machen, was ich noch nie zuvor gemacht habe. So etwas, wo ich nicht weiß, was im nächsten Augenblick auf mich zukommt… Ein Abenteuer!“, fasst die 28-Jährige ihre Sehnsüchte mit einem tiefen Atemzug zusammen. „Ich bin dankbar, dass mir in den letzten Monaten klar geworden ist, dass ich anderen Menschen helfen möchte, auch etwas Neues zu probieren. Gemeinsam können wir viel schaffen – ’to make the world a better place’“. In Fahren und auf Reisen lebt Nasila seit Mai letzten Jahres Gemeinschaft mit allen Höhen und Tiefen, sie lernte segeln, malt, gärtnert, diskutiert, kocht, wandert, lernt die deutsche Sprache und entdeckt immer neue Möglichkeiten, ihren Tag kreativ zu gestalten. Zum Wohle aller. Ob sie jemals in die Welt der Zahlen und Finanzen zurückkehren wird, weiß Nasila noch nicht. Eines jedoch ist sicher, die neuen Lernräume und Erfahrungen innerhalb der Grashalm-Projekte haben sie nachhaltig geprägt.
Georg wollte unbedingt schmieden lernen. Mit viel Langeweile und Frust hat sich der 21-Jährige vor drei Jahren durch das Abi gequält. „Wohl auch, um meine Eltern nicht zu enttäuschen“, gibt er in unserem Gespräch offen zu. „Meinen eigenen Kindern möchte ich dieses Bildungssystem jedoch später nicht zumuten“, reflektiert er. Immer deutlicher spürt Georg nach der Schule die Sehnsucht nach einem Ort, an dem er lernen und forschen kann, ohne in eine Form gepresst zu werden. Mit einem Freiwilligen Ökologischen Jahr beim ‚Grashalm’ trifft er im Juni 2011 ins Schwarze. „Hier hab ich seither jenen Raum für mich gefunden, in dem ich mich kreativ entfalten kann“, erzählt der gebürtige Sachse. Nach einer Teamleiterausbildung für Internationale Jugendcamps und Workshops in Bogenschießen, Strohballenhausbau und Schmieden, steigt Georg jetzt in die Bildhauerei ein. „Das Grashalm-Projekt ist mein Lebensmittelpunkt geworden“, erzählt er. „Dieser Ort schließt alles mit ein. Ich gebe etwas, ich nehme etwas. Da ist ein angenehmes stimmiges Verhältnis. Ich möchte in diesem Jahr eigene soziale Projekte starten. Für mich erfüllt sich damit die Vorstellung von ‚seine Arbeit sinnvoll und ganzheitlich zu leben’.“
Horst Weinlich ist in diesem bunten Miteinander jemand, der dort unterstützt, wo es gerade nötig ist. „Junge Leute brauchen Partner, die nicht in Front vor ihnen stehen, sondern an ihrer Seite“, so der erfahrene Mentor. „Ich bin jemand, der sie respektiert, machen lassen kann und ihnen Freiräume zugesteht, in denen sie auch scheitern dürfen. Zugegeben, das ist auch für mich oft nicht leicht auszuhalten. Was mir hilft, ist dann das Wissen darum, wie wertvoll eben auch diese Erfahrungen sind.“
Georg erinnert sich an eine Situation. „Es war im Sommer. Unser Segelboot war gekentert und hatte ein Loch. Horst hat mich dann beauftragt, es zu reparieren. Er hat mir ein paar Tipps und Telefonnummer gegeben und fuhr dann selbst nach Sibirien. Ich hatte noch nie zuvor ein Segelboot repariert. Das war schon eine heftige Situation. Es war anstrengend, eine echte Herausforderung und hat auch gut zwei Wochen gedauert. Doch ich hab’s gepackt. Das Boot ist wieder klar. Ein irres Gefühl.“
Rund um den Grashalm gibt es viele dieser Geschichten. Nicht alle haben ein schnelles Happy End, was sie deshalb nicht weniger wertvoll macht.  „Die Indianer sagen, Jetzt ist immer die richtige Zeit, um erwachsen zu werden. Und wie Nietzsche schon formulierte, manchmal braucht es etwas Chaos in der Seele, um einen tanzenden Stern zu gebähren“, so der Vereinsvorsitzende.
Mit ihm und seinem Kernteam wollen „junge Grashalme“ auch 2013 wieder viele Projekte anschieben. So gibt es erstmals Begegnungen mit der Lebensgemeinschaft in Findhorn, ein Sommerprojekt mit der Hochschule für nachhaltige Entwicklung in Eberswalde, Gartenarbeit im März, ein Kutterprojekt und Werkstattschule im April, ein internationales Teenager-Camp im Juni in Sibirien, einen geplanten Waldkindergarten und Begegnungen mit jugendlichen Straftätern, Kletter-Klausur-Wochen, Lastenrad- und Backofenbau und noch so vieles mehr. Die Sinfonie der Ideen wird immer hörbarer. Ein Ende braucht sie nicht, auch weder fertige Noten noch ein passives Publikum, das Beifall spendet, sondern vielmehr lebendige Musiker, die Lust haben, Mensch zu sein und ihre eigenen Töne aktiv mit in das große Orchester einzuspielen. Es darf dazu frei getanzt werden.
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