Führungskräfte

Heute morgen lecker Frühstück mit Croissant und Henry David Thoreau (1817 bis 1862). Er prägte den Begriff des „zivilen Ungehorsams“. Thoreau war ein guter Beobachter und scharfzüngiger Rebell. Er liebte die Natur, lebte zwei Jahre in einem Blockhaus im Wald. Allein(s).
Beim Kaffee lese ich einen Beitrag von ihm. Er schrieb seinerzeit:

„Ein Anführer, der nur das jeweilige Gesetz anwendet, damit die Wünsche einer Mehrheit befolgt und dabei demütig einer Verfassung dient, die Ungerechtigkeiten gegenüber Minderheiten stillschweigend duldet, ist kein Anführer, sondern nichts weiter als ein Gefolgsmann.“

Ich notiere mir das Zitat.
Seitdem drängt sich noch ein anderes Wort meinem Denken förmlich auf: Führungskräfte. Ich kann nichts tun. Das Wort ist immerzu da. Offensichtlich will es betrachtet werden. Also versuche ich mich dem Begriff zu nähern. Führungskraft. Im spreche es laut.
Zwei Worte vereinen sich zu einer ganz neuen Ordnung. Obwohl im Detail kürzer und erst im zweiten Waggon, setzt sich das Wort Kraft in meinen Sprech-  und Denkexperimenten ganz dezent über den Begriff der Führung hinweg. So empfinde ich es. Die Führung gerät durch die Kraft am Ende fast ein wenig in Bedrängnis. Seltsam.
Einbildung? Mache ich das? Liegt es in der Natur der Sache?
Ich baue um: Kräfteführer.
Jep! Erleichterung. Ich mag das neue Wort. Für mich trägt es mehr Selbstbestimmung. Ich kann ihm leichter vertrauen.

Dennoch ist das alte Wort nicht verschwunden. Viele verschiedene Perspektiven tun sich auf. Die im gesellschaftlichen Sinne führen mich zu Bildern wie „Führungskräfteseminar, Chefetage und Gehaltsgruppe“  und weiter zu Fragen: Wer führt in dieser Welt eigentlich wen? Und wohin überhaupt? Wenn die Führer Kräfte sind? Was sind dann die Geführten? Kraftlose? Kann ich mich überhaupt noch frei entfalten, wenn ich von äußeren Kräften geführt werden muss? Was, wenn ich diese Kräfte als hinderlich empfinde? Oder mehr noch: als pervers?! Muss/kann/darf ich mich ihrer Führung dennoch fügen? Apropos Fügung. Kling sie der Führung nur zufällig so ähnlich?

Mit jedem neuen Gedanken wird es komplexer und innerlicher. Mit Worten kann ich dem nun nicht mehr folgen. Alles fließt ineinander und führt immer tiefer hinauf…
Kräfteführer am Werk.

Atelierbesuch

Der Maler Hans W. Scheibner.

Besuch bei dem Maßlower Maler, Bildhauer, Regisseur und Puppenbauer Hans W. Scheibner. Sein Atelier erinnert an das kreative Chaos des irischen Malers Francis Bacon. Überall Bilder, Farben, Zettel, Fetzen, Fotos, Erinnerungen, Puppen, Masken, Fundstücke…
Klar, Hans mag den Bacon. Und Lucian Freud und George Grosz – die beiden besonders. Er selbst ist ein gnadenlos Kreativer – erweckt Hölzer, Schrauben, manchmal sogar Abfall zu neuem Leben. Und Hans malt mit einem Ausdruck, der mich in Ehrfurcht zuweilen fast zurückweichen lässt. Kraftvoll, rabiat, konsequent. Dem Gerhard Richter hat er mit Pinsel und leuchtender Farbe prompt ein Schlitzohr verpasst. Seine Porträts erstaunen mich. Zu Richter gibt es in Hans Scheibners Biografie durchaus Verbindungen. Anfang der 60-iger Jahre hatte er zusammen mit Hans-Hendrik Grimmling sein erstes Atelier in Leipzig. Später gehörten zu dieser Gruppe auch Gerhard Richter und Lutz Friedel.

„Der Mensch weiß oft gar nicht, welches Glück ihn umgibt“, sagt der Maler heute. Nicht nur sein fast weißer ‚Hans-Bart‘ (mit dem er sicher schon auf die Welt gekommen ist) und die vielen Jahre Lebenserfahrung machen den Tausendsassa humorvoll, streng, weich und weise zugleich. Das traumhafte Anwesen in Maßlow, die Natur, viel frische Luft, Reiten mit dem befreundeten Bauern aus der Nachbarschaft, seine Familie…. „Ich bin endlich angekommen“, sagt Hans. In ein paar Tagen wird er 69.

Den Traum Künstler zu sein, hat er schon als Junge so intensiv geträumt, dass ihn niemand aufhalten konnte. Dabei hat mit Boxen alles angefangen. In seinem ersten Heimat-„Stall“ in der Nähe von Leipzig lernt er Selbstbewusstsein, Disziplin und Fairness. „Wer weiß, vielleicht wäre ich sonst sogar ein Schläger geworden“, sagt Hans. Als Kind hat er stark gestottert. „Hat sich durch’s Boxen gelöst“, ist er sich sicher. Ein Boxsack hängt heute noch in seinem Atelier – zwischen riesigen Leinwänden mit Wettkampfszenen und Porträts von Weltmeistern und Trainern.

Die Begegnung mit seiner Frau Karin Zimmermann ist 1974 so etwas wie Fügung. „Wir sind grundverschieden“, sagt er. „Haben einander aber nie ändern wollen.“ Für ihn ist das Liebe. „Jeden Morgen, wenn ich aufstehe, bin ich fasziniert von dieser Frau, fahre noch immer total auf sie ab. Ich sage, die beste Kosmetik der Geist.“

Karin ist auch Malerin. Als co-kreatives Paar sind beide miteinander gereift und gewachsen. Zwei Kinder – auch Künstler. „Ohne Karin, ihren Halt, hätte ich mich wahrscheinlich sehr viel früher völlig verlebt. Ich wäre einfach immer weitergekreiselt…. Ich habe in jungen Jahren sehr intensiv gelebt, kaum geschlafen. Ich wollte nichts verpassen.“

Die Dummheit vieler Menschen regt Hans auf. Er schimpft auf die Achtlosen, die Mitläufer, den ganzen Konsumwahnsinn. Sein künstlerisches Werk trägt Botschaften. Oft die einer kaputten Welt und ganz eigene. Er collagiert, probiert, transformiert. Gerade ist in seinem Atelier das „deutsche Rassehuhn“ entstanden – eine seltsam mutierte Kreatur aus Knochen, Hahnenfüßen, einem Hundegebiss und zig Fetzen von bunten Werbeprospekten. Ihn gruselt die Freiheit der Idioten. „Irgendwann weiß keiner mehr, wie es geht“, sagt er kopfschüttelnd.

Er, der er zu DDR-Zeiten des eigenen Kopfes und künstlerischer Wahrheiten wegen Theaterverbot hatte, preist heute mehr und mehr die einfachen Wunder um ihn herum. „Jeden Tag geht die Sonne auf, die Vögel zwitschern. Die Hühner im Hof gackern und legen ein Ei, was ich dann zum Frühstück essen. Ich habe eine so tiefe Hochachtungen vor all diesen Geschenken. Und während diese Wunder tagtäglich geschehen, wollen Leute noch schnellere Autos und hochfrisierte Maschinen…. Sie leben am Leben vorbei, weil sie denken, dass das liebe Geld unser aller Gott ist.“

Hans hat einen schönen Humor. Den trägt er auf der Zunge. Seine Hände hingegen übersetzen eher still alles in eine lebendige Form. Er hat neue Latten am Zaun. Vor dem Haus. Bunte. Mit Figuren drauf. Er erzählt mir dazu fröhliche Geschichten. Dann zeigt er auf die großen hellen Plastiken im Garten mit den vielen Bäumen. Die Arbeiten sind von seiner Tochter Anna Martha Napp. Wunderbare Symbiose zwischen Kunst und Natur.
An diesem Ort zu sein, macht ganz offen und zufrieden. Tut richtig gut.

Ja, das Dorf Maßlow ist durch Hans W. Scheibner und seine Familie ein spürbar besonderer Ort. Bezaubernd. Inspirierend. Lebenswert.

www.kunstatelier-masslow.de

Hans Bilder sind seine Biografie.
Hans und das „deutsche Rassehuhn“.
Porträt Gerhard Richter „mit Schlitzohr“.
Atelierblick.
Alle Latten im Zaun sind neu. Mit bunten Figuren.

Potentialität

Die alte Physik sagt: Wirklichkeit ist Realität (dingliche Materie).
Die neue Physik sagt: Wirklichkeit ist Potentialität.
Dazu ein Beispiel: Wenn sich nur 24 Menschen in einem Raum befinden, gibt es 10 hoch 83 Möglichkeiten, wie diese Menschen untereinander und miteinander Kontakt aufnehmen können. Die Zahl entspricht etwa der Anzahl der Atome in einem Universum mit einem Durchmesser von 15 Milliarden Lichtjahren. Unvorstellbar.

Das ist Potentialität! Die Wirklichkeit steckt voller Möglichkeiten. 
(Hans-Peter Dürr)

Was, wenn keiner kommt?

Drei Puppenspieler zwischen zwei Bäumen.
Eine Welt ohne Zuschauer? …. beeinflusst das Spiel und die Bühne. Gestern sprachen wir darüber. In einer kleinen Runde betroffener Herzen. Das Rotkäppchen-Puppenspielfestival in Wismar blieb ohne Gäste. Zu den Vorstellungen um 18 und um 20 Uhr kam niemand. Nicht ein einziger Zuschauer. Drei Spieler, ein Regisseur, jede Menge Puppen, Licht, Ton und so viel Hingabe….. Und nicht eine Nase ließ sich blicken. Heftig! Erfahrungen, die jeder auf seine Art und Weise verstoffwechseln muss. Was sich stark in mir bewegt, ist die Forschungsfrage: Was, wenn du etwas tust, dass du so sehr liebst, dass du es tun musst – und du tust es in Hingabe auch an deine Mitmenschen. Doch die nehmen es nicht wahr, nicht ernst, nicht an…. Du bereitest ein Festmahl und keiner nimmt an deiner Tafel Platz.

Was geschieht? 
Was geschieht nicht? 
Vor allem viele Künstler(seelen) machen diese Erfahrung immer wieder. Und arbeiten dennoch unbeirrt, mutig und freudig weiter. Werden stärker, besser. Das ist mir gestern so richtig bewusst geworden. Deshalb: Ich verneige mich vor euch, ihr Abenteurer, Kunstschaffende und Schöpfer dieser Welt! Danke, dass es euch gibt! Und dass wir nicht aufgeben werden, diese Welt bunter und schöner und fröhlicher und wertvoller zu machen. 
Weil keine Zuschauer da waren, blieben die Großmütter und Wölfe und roten Kappen in der Kiste. Zum Trost gab es Rotkäppchen-Sekt. Dann haben Juana, Hans und Rolf spontan eine Geschichte gespielt. Für meine Fotokamera. Schaut:

Schade! Keiner in Sicht.
Hochspannung im Hintergrund.

Im dichten Dickicht.

Balance-Act.

Schirmherrschaft.

Ommm!!!

Regisseur zieht Schauspielerin mit.

Schauspielerin wehrt sich….

Annäherung auf der Parkbank.
Einander tragen. Mit Freude. Galoppi!
Juana mit Flunsch.