Lebenskünstler

„Wenn ich etwas Neues brauche, mache ich es mir selbst“, sagt Marcus Graucob. Der 55-Jährige ist Künstler – Lebenskünstler. „Ich bin freiwillig arm“, versucht er, seinen Weg in Worte zu fassen. „Genau dadurch fühle ich mich reich.“ Ob Marmeladen, Säfte, Chutneys, Seifen, Jacken, Mäntel, Kissen, Mützen – Marcus Graucob kocht, rührt, siedet, gärtnert, schneidert, klebt und hämmert in Eigenregie.

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Jacke. Selbstgemacht!

„Ich mag es, vorhandene Dinge neu zu arrangieren“, erzählt er. Aus seiner Garderobe zieht er einen langen Mantel mit Kapuze hervor. „Mein Hausmantel“, lacht er. „Bequem, warm, praktisch“, schwört der Wahl-Wismarer lachend. „Er ist außerdem eine Hommage an meine Mutter – sie ist vor drei Jahren gestorben“, fügt er zu. „Für diesen Mantel habe ich eine Tagesdecke, die ich einmal von ihr geschenkt bekam, neu verarbeitet. Das Futter sind billige Fleecedecken. Ich fühle mich darin richtig wohl.“ Die Wände in der Wohnung des gelernten Restaurators sind leer. „Ist doch eh schon alles viel zu viel, was uns umgibt“, erklärt er. Dafür verteilen sich in den Räumen Objekte, Arrangements, Skurrilitäten. Ein Stück Treibholz steht auf einem Sockel am Fenster, darauf ein Tierschädel. Die Hörner sind aus Rollo-Ketten. Eine alte Brosche komplettiert das Ensemble. Auf einer Fensterbank stehen Einweckgläser – darin Glasscherben, Puppenköpfe, Arme, Beine. „Eingeweckte Kindheit“, kommentiert der Künstler das seltsame Kabinett. „Ich habe mich lange mit dem Thema beschäftigt.“ Sich immer wieder auf Themen einzulassen, in ihre Tiefen hinabzusteigen, macht ihn als Lebenskünstler aus. „Ein wichtiges Wort in meinem Leben ist ,genug‘“, erzählt Marcus. „Was ist genug? Was ist mein eigener Wunsch? Und wann bin ich durch Werbung und Umwelt beeinflusst? Ich finde es wahrlich nicht einfach, mich in dieser Welt so zu verhalten, dass ich sie nicht noch mehr kaputt mache“, sagt Graucob, der im Übrigen noch nie eine Jeans besessen hat.

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Im Garten beim Maskenbau. Fluppe im Mundwinkel gehört dazu.

Gier und Neid habe er sich abgewöhnt, sagt der Mann mit den beiden grauen Bartzöpfen. Wie das? „Geholfen hat mir vor allem die Kommune Friedenshof bei Hannover. Das ist eine spirituelle Gemeinschaft, die auf einem Bauernhof lebt. Sie ist von Thich Nhat Hanh und Lehrern anderer Traditionen inspiriert.“ Mit den Menschen dort verbringt Marcus Graucob regelmäßig Zeit. Sein Auto hat er schon vor Jahren abgegeben. „Ohne zu sterben“, lacht er. „Mein Bauch wurde dadurch schmaler und die Brieftasche dicker.“

Meditation gehört zum Alltag des Künstlers. „Ich nenne das aber nicht mehr so“, erklärt Marcus. Wir reden über Spiritualität und auch darüber, welche seltsamen Blüten sie mitunter treibt. „Was ist Spiritualität heute?“, frage ich ihn. „Bullshit!“, kommt es wie aus der Pistole geschossen. Marcus grinst. Dann relativiert der Künstler: „Ok. Lifestyle. Spiritualität ist oft nur Lifestyle.“ Genau deshalb meidet er auch das Wort „meditieren“. „Ich sitze“, sagt Marcus. „Jeden Tag 20 Minuten.“ Die Bodenkissen für sein tägliches Ritual hat er natürlich selbst gefertigt.

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Tägliches Ritual: Sitzen.

Seine Sehnsucht? „Mehr Austausch mit kreativen Menschen in Wismar. Ich lebe doch ziemlich zurückgezogen.“ Derzeit plant der gebürtige Niedersachse eine Masken-Performance. „Ich möchte mich zeigen, in dem ich mich verhülle“, sagt er schmunzelnd. Thema dieser Aktion, die auf dem Marktplatz in Wismar stattfinden soll, sind Konformität und Angepasstheit – oft die Fesseln eines freien kreativen Menschen. Sein handwerkliches Geschick hat Marcus Graucob übrigens bei Klaus Dupont gelernt. Damals, 1982, in dessen Werkstatt in Schwarmstedt. Noch heute ist Marcus Graucob mit dem Berliner Künstler befreundet. „Bei ihm habe ich viel gelernt: Präzision, Sorgfalt und den Umgang mit Werkzeugen, was enorm wichtig ist“, so der Wismarer. Eine Auswahl seiner Arbeiten ist derzeit in der Krämerstraße zu sehen. Fotografien, Streetart und Objekte auch unter www.wasserfresser.de.

 

Neue Nachbarn: Flüchtlinge

Das Leben von Bernd Schulz hat sich verändert. Sein Dorf auch. Seit Wochen lebt der Rentner mit Flüchtlingen zusammen – Tür an Tür mit Menschen aus der Ukraine, Syrien und Albanien. Sein Fazit: „Es ist lebendiger geworden.“ Der 66-Jährige geht offen mit der neuen Situation um. „Irgendwer braucht immer irgendwas“, erzählt er und kramt in seinem Werkzeug-Fundus. Ehefrau Margrit schüttelt hin und wieder liebevoll den Kopf. Ihr Mann hilft, wo er kann, blüht förmlich auf, weil es ihm gut tut, gebraucht zu werden. Erst kürzlich hat er zusammen mit den Ukrainern Blumen gepflanzt.

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Bernd Schulz. Der Rentner unterstützt die neuen Nachbarn.

„Die drehen ja sonst durch, wenn die nichts zu tun haben“, sagt Schulz. Mitten im Arbeitseinsatz ist er zu Netto gefahren und hat Getränke für alle besorgt. Von seiner schmalen Rente. „Mit einem vernünftigen Wort und einem Handschlag kann man vieles regeln“, sagt der engagierte Rentner. „Ja, wir persönlich kommen mit den neuen Nachbarn gut klar“, bestätigt seine Frau. „Manchmal mache ich mir Sorgen“, gibt die 64-Jährige zu. „Nicht jeder im Dorf mag die Fremden. Und es kommen immer mehr Flüchtlinge.“ „Stimmt“, bestätigt Roy Rietentidt. Der 47-Jährige ist Sozialarbeiter und hilft jenen, die Asyl suchen im Nordwesten. Der Landkreis hat ihn im März angestellt. „Seitdem rauche ich mehr“, sagt Roy, der nicht selten bis an die Grenzen der Belastbarkeit geht. „Mehr Flüchtlinge, mehr Zigaretten“, kommentiert er in seiner humorigen Art. Auch Bernd Schulz kennt er. Hin und wieder tauschen sich die beiden aus. „Ich bin wirklich stolz auf die Unterstützung vieler Nordwestmecklenburger“, erklärt Rietentidt. Sein Handy blinkt und klingelt unentwegt. „Wenn du in diesem Job nicht die Ruhe bewahrst, hast du echt verloren“, kommentiert der Wismarer den Dauerstress. Erst kürzlich sind Groß Stieten 24 weitere syrische Kriegsflüchtlinge zugewiesen worden. „Diese Zuweisung kam so plötzlich, dass die Wohnungen noch nicht mal fertig sind“, erklärt Roy Rietentidt das Chaos am Tag X.

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Menschen und Papier. In diesem Falle sind Listen hilfreich. Mohamad schaut, in welcher Etage er wohnt.

Noch während Handwerker und Möbelmonteure Waschmaschinen und Herde in den Block schleppen, kommt ein Bus aus Horst (Landkreis Ludwiglust/Parchim), dem Erstaufnahmelager für Asylbewerber und Flüchtlinge in MV, an. Männer, Frauen und Kinder mit Plastiktüten und Rucksäcken müssen erstmal auf Rasen und Bordsteinkante Platz nehmen. Einem Syrer geht es nicht gut. In einem nahegelegenen Waldstück muss der Mann sich erstmal übergeben. „Gib acht, dass du dich nicht ansteckst“, mahnt daraufhin Roy Rietentidt seine Kollegin Anni Vincenz. Beide bleiben professionell und gelassen. Routine. Mittels Listen werden Zimmer verteilt. „Ohne Listen läuft gar nichts“, lacht Rietentidt. Eine der Prioritäten: „Kurden nicht mit Moslems zusammen. Dinge, die man mit der Zeit lernt.“  Roy Rietentidt hat mittlerweile einen geschulten Blick. „Zwei der Neuankömmlinge sind schwer traumatisiert“, sagt er. „Das sehe ich an den Augen.“

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Willkommenskultur! Die kleine Ruzha aus Syrien spricht mit Roy die Blumensprache.

Der Mann liebt seine Arbeit. „Sie ist anspruchsvoll und zeitaufwendig, aber für mich auch die Chance, meinen Beitrag zu leisten, dass in Deutschland Wärme und Geborgenheit gegeben werden.“ Klar, auch etliche Probleme sieht der Sozialarbeiter. Als einer, der täglich an der Basis wirkt, ist er für absolute Transparenz. „Wir müssen uns gegenseitig zuhören und offen miteinander reden“, plädiert der Profi-Helfer. „Es geht jetzt nur zusammen.“

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Aufeinander zugehen!

Sein größter Zorn? „Was mich wirklich ankotzt, sind einige Deutsche, die Asylbewerber dafür verantwortlich machen, dass es anderen Deutschen hierzulande schlecht geht. Im Fernsehen gibt es diese Serie „Die Auswanderer!“. Deutsche suchen ihr Glück im Ausland! Und umgekehrt?! Eine miese Moral die einige haben!Ich schäme mich für solche Aussagen! Glaubt mir, auch diese Menschen, die auf der Flucht sind, haben hart gearbeitet.“

Was ihn motiviert: „Es sind die Menschen – lachende Kinder aus Syrien oder die herzhafte Umarmung von einem Moslem, der gerade seine Anerkennung bekommen hat.“
Und noch etwas brennt dem Sozialarbeiter auf der Seele: „Ich bin oft beeindruckt und bewegt davon, dass diese Menschen von dem Wenigen, was sie haben, noch gern etwas abgeben! Die Herzlichkeit und Dankbarkeit beschämen mich oftmals, da ich nicht zufrieden bin. Viel zu oft muss ich mit dem Gefühl leben, dass ich zu wenig Zeit für sie und ihre Geschichten habe!“