Die Physik des Schreibtisches

Höre mit Vergnügen die Vorträge des Physikers und Philosophen Hans-Peter Dürr. (Youtube.) Gerade sprach er über ein Grundgesetz in der Natur, das da lautet: In Zukunft passiert das Wahrscheinlichere wahrscheinlicher. Er verweist auf den 2. Hauptsatz der Thermodynamik, der besagt, dass ein geordnetes System immer die Tendenz hat, in einen ungeordneteren Zustand überzugehen als umgekehrt. „Und das sehen Sie an Ihrem Schreibtisch“, so Dürr. „Er wird immer unordentlicher.“ Der stabilste Zustand sei übrigens der größter Unordnung, so der humorige Physiker. „Wenn Ihr Schreibtisch so unordentlich ist, dass Sie noch stundenlang suchen können – er wird einfach nicht unordentlicher – dann(!!!) sind Sie in einem stabilen Zustand.
Übertragen vom Schreibtisch in unser vielfältiges Leben ….. eine sehr interessante Perspektive!

Steffen am Meer

Steffen und ich waren heute am Meer. Ich hatte es ihm bei unserem ersten Treffen ja spontan angeboten. Wir waren auf der Insel Poel und als das Wasser in Sicht kam, meinte er: „Puh! Jetzt fängt mein Herz an zu bubbern…“
Wie schön! Denn eigentlich wollte sich Steffen hier das Leben nehmen. Es kam alles anders. (Die Geschichte findet ihr auch hier auf meinem Block.) Er hat jetzt eine eigene Wohnung. Noch vollkommen leer. Irgendwie trostlos. Es fehlt an allem. Das Campingbett auf dem er schläft, macht ihn wahnsinnig. „Viel zu weich! Ich brauche unbedingt ein hartes Bett“, hat er mir heute verzweifelt erzählt. Und alles sei so still. „Mir fehlen die Geräusche, das Vogelgezwitscher.“
Zehn Jahre auf der Straße – die Umgewöhnung fällt schwer. Er fragt mich bei meinem Besuch, wie die Gegensprechanlage überhaupt funktioniert, welcher Knopf für was? Wir haben heute viel gelacht. Vor unserem Ostsee-Trip waren wir noch bei einer Frau M. am Ostseeblick, die sich auf meinen Artikel über Steffens Schicksal in der OZ gemeldet hat. Sie hatte Handtücher, Bettwäche und sehr hübsche Sammeltassen für Steffen bereit gelegt. Über die Sammeltassen mit Goldrand haben wir echt gekichert. Steffen: „Da glaubt mir doch jetzt keiner mehr, dass ich ein Obdachloser bin…“ Frau M. spendierte auch noch eine Bratpfanne. Sie hielt Steffen dann einen Vortrag, dass dies eine besondere Pfanne sei und man darin nicht mit Messer und Gabel kratzen darf. „Teflon“, mische ich mich ein. Steffen schaut entgeistert. Und da holt Frau M. aus der Küche einen Holzlöffel, den sie noch obendrauf packt. „So. Der ist auch noch für sie. Den können Sie nehmen. Da bleibt die Pfanne heil.“  Steffen schenkt der netten hilfsbereiten Dame am Schluss eine Umarmung. Sie kommt uns dann sogar noch einmal bis zum Auto hinterhergelaufen und bietet ein Salatbesteck an. Steffen bedankt sich sehr höflich und erklärt, dass er ja noch keine Schüssel habe… für den Salat.
Das Leben ist kurios. Und bunt. Und wirklich unübertroffen einmalig.

Ein paar Momente braucht Steffen ganz für sich.

Kindheitserinnerungen…..

Sprache als soziale Plastik

Johannes Stüttgen in Greifswald.

Johannes Stüttgen heute in Greifswald. Schwerpunkt seinen Vortrages „Jeder ist ein Künstler“ ist unter anderem die „Soziale Plastik“ (nach Joseph Beuys). Stüttgen eröffnet seinen Vortrag vor 150 Schülern mit folgendem Bild:

Ich bin heute hier, um Ihnen etwas zu vermitteln – was bedeutet, dass ich dabei eine Mitte überwinden muss. Schauen Sie, da ist ein Abstand, eine Distanz zwischen uns, die gilt es zu überwinden. Gedankenübertragung zwischen uns funktioniert leider nicht – ich muss also eine Trennung überwinden. Wie mache ich das? Mittels Sprache! Das heißt im Kopf ist ein klarer Gedanke, den ich zunächst in eine andere Form bringen muss. Ich muss den Gedanken informieren. Das ist ein höchst komplizierter Vorgang, der uns allen alltäglich und selbstverständlich erscheint. Dabei ist er unglaublich komplex und einmalig. Ich brauche dazu zunächst Luft. Ich atme diese Luft ein, dann aus…. , lasse sie dabei durch meinen Kehlkopf wandern, benutze Gaumenflügel, Zunge, Zähne… Und ich muss dieses so tun, dass nicht etwa nur Kauderwelsch rauskommt, was keiner verstehen würde, sondern ich forme diese Luft dergestalt, dass bei Ihnen auch ein Sinn ankommt. Das ist ein bildhauerischer Vorgang. Ich forme Luft zu einer Plastik. Die kann niemand sehen. Aber hören. Ich spreche in einer unsichtbaren Plastik. Ich forme Material. Ich informiere. Und sie exformieren es dann wieder. Das heißt, Sie müssen dann eine Form auf Ihre Weise erst wieder herausarbeiten.

Obdachloser Herzöffner

Steffen vor einigen Tagen in Wismar.

Steffen Perniß ist obdachlos. „Auf Platte“, wie er es nennt. Seit über zehn Jahren. Nach Wismar ist der gebürtige Thüringer gekommen, um sich hier das Leben zu nehmen. Schluss. Aus. Ende. Nur noch einmal die Ostsee sehen, denn das war schon als Kind sein Traum.

Wir lernen uns an einem seiner besseren Tage kennen. Die waren in seinem Leben bisher eher dünn gesät. Vor Pfingsten schneidet sich Steffen deshalb die Pulsadern auf. Im Parkhaus vom Spaßbad.

„Als das Blut dann lief…. fand ich alles so verrückt und hab mich gefragt: Was mache ich hier eigentlich?!“ Während Steffen mir das bei unserer ersten Begegnung erzählt, kriecht mein kritischer Blick automatisch unter die Ärmel seiner sandfarbenen Jacke. Fündig bleibt er an seinem linken Handgelenk hängen. Stimmt. Eine weiße Mullbinde. Manchmal nervt dieser Anteil in mir, der zunächst alles in Frage stellt. Was habe ich denn gedacht? Dass dieser Mann Unsinn erzählt? Ich erinnere mich, wie seine Hand mit dem Verband nach einem weinroten Stoffbeutel greift. „Cooles Teil“, wundert es sich in mir. Dieses „es“ meint tatsächlich den Beutel. Ein Obdachloser mit einem sauberen, noch dazu coolen Stoffbeutel irritiert offensichtlich mein inneres Bild. Hat was von overdressed. „Nicht zu fassen“, geht es mir seinerzeit durch den Kopf. „Was für völlig idiotische Gedanken. Jetzt reiß dich mal zusammen, Ina!“

Von vorn. Elke, unsere Redaktions-Sekretärin, bringt letzte Woche einen Besucher mit prallen Taschen und eingerollter Schlafmatte an meinen Schreibtisch. „Das ist Herr Perniß“, stellt sie ihn vor – einen Zettel mit Notizen in der Hand, von dem sie abliest. „Herr Perniß ist seit dem 11.5. in Wismar, obdachlos, hat einen Suizidversuch hinter sich und möchte sich jetzt beim Sozialarbeiter vom Krankenhaus, der Diakonie und dem Jobcenter bedanken, die ihm sehr geholfen haben.“ Nach dieser ungewöhnlichen Bekanntmachung verlässt Elke den Raum und ich sitze das erste Mal in meinem Leben einem Obdachlosen ganz nah gegenüber.

„Ja, ich möchte mich bedanken“, sagt der. „Ich habe so etwas wie hier noch nie erlebt.“ Aus eben jenem farbigen Beutel zieht er jetzt einen dicken Hefter mit vielen Formularen und Zetteln, sorgfältig in Klarsichtfolien verpackt. Er suche nach einem Namen von der Frau im Jobcenter. Die sei sehr hilfsbereit – will ihm eine Wohnung und einen Ein-Euro-Job besorgen. Er blättert in Stapeln von Papieren, findet den Namen aber nicht.

Nein, er stinkt nicht. Meine Nase hat längst recherchiert. Was rüberweht, erinnert mich eher an jenen seltsamen Geruch von „Morgens-nach-der-Party“. Kalter Rauch, ja. Und Alkohol? Jjjein. Ich bin nicht sicher.

Mir fallen seine blauen Augen auf. Steffen erzählt. Vieles geht zunächst durcheinander. Oder passiert das in meinem eigenen Kopf?

Vor ein paar Wochen war er in Halle. Nachts dann vier Typen. Steffen kam nicht schnell genug aus seinem Schlafsack. Sie haben unerbittlich zugetreten. Eine Rippe bricht. Doch am schlimmsten es es am Kopf. Furchtbare Tritte haben sein Auge erwischt. „Die Rippen, blaue Flecken – alles egal. Ich hatte nur Angst, dass ich nie wieder sehen kann“, erzählt er.
Hornhaut gerissen, diagnosztiziert ein Arzt im Krankenhaus. Operation, Augenklappe und dann nichts wie weg.

Steffen ist „Alleingänger“. Er hat niemanden, fühlt sich nirgens zugehörig. Das war mal anders. Damals in Nürnberg, vor acht Jahren. Da hatte er Annette. Sie wohnten zusammen im Obdach, hatten sich zuvor in Dessau kennengelernt. „Eines nachts wache ich auf“, erzählt Steffen. „Annette lag nicht neben mir. Ich bin um die Ecke, hab geschaut – da hing sie dann in der Küche.“
„Mit einem stumpfen Brotmesser hab ich sie losgeschnitten“, taucht Steffen in die Vergangenheit ab. Seine Stimme verändert sich. Wird dünner. „Irgendwie hab ich’s geschafft“, erinnert er sich. „Ich war wie von Sinnen, hab es mit Mund-zu-Mund-Beatmung versucht. Doch zu spät. Sie war schon tot.“

Steffen säuft sich ins Koma.  „Was dann kam, war nicht Abstieg, sondern freier Fall“, sagt er. „Ich bin von Stadt zu Stadt gezogen.“
Rastlos. Betrunken. Allein.

Ich höre ihm zu, fast bewegungslos. Ich weiß nicht, was ich sagen oder fragen soll. Immer wieder muss ich auf seine Hände schauen. Die sind leicht gebräunt, ganz glatt und schön. Ist mir sofort aufgefallen. Seltsam. So vieles an ihm bricht das übliche Bild.
Was für ein Bild eigentlich?
Innerlich spüre ich einen Strom von Tränen, der mir bis zu Hals steigt. Keine Ahnung, was ich in dem Moment fühle?
Doch. Traurigkeit.

Was Steffen wohl fühlt?
Irgendwie wage ich es nicht, diese Frage direkt zu stellen. Habe ich Angst vor seiner Antwort?

Steffen ist 43. Ein Jahr jünger als ich. Er hat Koch gelernt, sagt er, weil er das immer irgendwie mochte. Mechaniker ist er auch. Ich staune. Zwei Berufe. „Warum lebst du auf der Straße?“, frage ich ihn. Er bewegt sich auf seinem Stuhl hin und her.  „Die haben damals nicht bezahlt“, sagt er. „Ich habe gearbeitet und sie haben nicht bezahlt.“ Nachdem ich die Frage gestellt habe, spüre ich, dass sie mehr schwer als wirklich wesentlich ist. Gott im Himmel, mir fallen irgendwie nur doofe Fragen ein, schelte ich mich innerlich. Mein Kopf ist wie leergefegt.

Ob er überhaupt noch richtig und gut schlafen könne, nachdem sie ihn in Halle so verprügelt haben, will ich als nächstes wissen. Er schaut mich an. Diesmal wie ein Meister. Und antwortet: „Schlafen? Ich habe seit acht Jahren nicht mehr geschlafen. Auf der Straße geht das nicht. Da bist du immer irgendwie unter Strom. Es ist kalt, nass, gefährlich.“

An diesem Punkt wendet sich in mir ein Blatt. Ich kann es nicht erklären. Es passiert einfach. Demut, Respekt, Würde…  All das fließt plötzlich. Ich spüre es und möchte diesen Fremden gern umarmen. Nicht aus Mitleid, sondern weil es sich gut und richtig und stimmig anfühlt.
Ich bin feige.
Rege mich nicht.
Höre weiter einfach nur zu.

Nach Wismar kommt Steffen, weil er sterben und leben will.
„Wenn du da ganz unten bist… wirklich ganz unten… direkt an der Grenze zum Freitod, dann ist es schwer, dich wieder aufzurappeln. Ohne Hilfe schaffst du es einfach nicht. Unmöglich.“

Im Obdachlosenheim am Haffeld ist kein Zimmer frei. Aussichtslos. Das Amt will ihn deshalb, so ist es üblich, zunächst in den „Schläferbereich“ stecken. Versiffte Matten, große Räume. „Ohne mich. Das ist unwürdig.“, sagt Steffen. „Dann lieber Voll-Platte.“
Er entdeckt das Parkhaus an der Kuhweide.

Auch am Hafen hat er etwas Glück. Manchmal abends bekommt er dort von den Kuttern eine Tüte Fischbrötchen. Gute Reste. Einmal sogar einen heißen Kaffee. Umsonst. „Betteln ist nicht leicht“, sagt er. „Die Scham ist groß. Anfangs ist es besonders schwer. Später gewöhnt man sich. Aber oh ja, ich schäme mich noch immer sehr, wenn ich Leute anbetteln muss.“

Pfingsten schlitzt sich Steffen die Pulsadern auf. So hatte er es geplant.
Glück im Unglück. Er schneidet nicht tief genug. Passanten rufen einen Notarztwagen. Steffen kann ein paar Tage in der Klinik bleiben. Warm und trocken. Der Sozialarbeiter im Krankenhaus setzt sofort einige Hebel in Bewegung. Das Netzwerk funktioniert gut. Diakonie und Jobcenter arbeiten Hand in Hand. Steffen nimmt die Hilfe an. Er öffnet die Herzen vieler Menschen in Ämtern und Einrichtungen. Ja, irgendwie geschieht das. In seiner Gegenwart klopft das eigene Herz spürbarer.

Ob er denn nun schon die Ostsee gesehen hätte, frage ich ihn zum Schluss. „Nee, nicht so wirklich“, lautet die Antwort. Er wäre halt nur am Hafen gewesen.
„Dann fahren wir da zusammen hin“, schlage ich ihm vor. „Hast du ein Handy“, frage ich unüberlegt. „Wir müssen beide lachen.“ Natürlich nicht. Kein fester Wohnsitz, kein Handy. Ist eben eine völlig neue Erfahrung auch für mich: Wie verabrede ich mich mit einem Obdachlosen?
„Frag meine Fallmanagerin“, sagt Steffen. „Die weiß, wo ich wann stecke.“

Dann der Abschied. Ich bin etwas unsicher, krame in meinem Portemonnaie. Mist, nur noch acht Euro. Mir ist das peinlich. Die strecke ich ihm entgegen. Eine skurrile Situation.
„Das kann ich nicht annehmen“, wehrt Steffen entsetzt ab. Wir stehen uns jetzt gegenüber.
„Wieso nicht?“, frage ich zurück. „Das ist gegen den Codex. Solange noch Essen an Bord ist, nehme ich kein Geld. Ich hab noch ein halbes Hähnchen in der Tasche.“
„Was für ein doofer Codex“, platze ich raus. „Gut. Dann isst du das Hähnchen eben gleich, ich warte… und dann nimmst du das Geld.“ Er lacht. Ich auch. Und dann breitet Steffen spontan seine Arme aus. „Ok. Dann eben so….“, sagt er.
Und ich bekomme meine Umarmung. Die schönste seit langem.
Von einer mutigen tapferen Seele.
Einem besonderen Menschen.
Danke, Steffen!

Ying & Yang

*
Schweigen – Reden
Empfänglichkeit – Unbeeinflussbarkeit
Gehorchen – Herrschen
Demut – Selbstvertrauen
Blitzschnelle – Besonnenheit
alles annehmen – unterscheiden können
Vorsicht – Mut
nichts besitzen – über alles verfügen
an nichts gebunden sein – Treue
sich zeigen – unbemerkt bleiben
alles – nichts
endlich – unendlich
zeitlich – ewig
sterblich – unsterblich
*

Als Kind wollte sie Zauberin werden!

Susanne Wiest beim Locken drehen!

Ein ganz und gar unvollständiges Porträt einer zauberhaften Piratin von der Greifswalder Wieck. Die Grundeinkommenaktivistin will mit vielen guten Ideen die Schatzkammern des Bundestages füllen.

„Bist du jetzt Politikerin?“, frage ich Susanne bei meinem gestrigen Besuch. Mag sein, dass sich meine Nase dabei fast unmerklich ein wenig rümpft. „Nö.“, antwortet sie ganz spontan. „Aber Spitzenkandidatin!“ Beide prusten wir daraufhin los. Lachen hilft bei der Befreiung von alten Begriffen und Vorurteilen. Herrlich! Und auch meine Nase entspannt sich jetzt. Wir essen riesige Schoko-Glückskekse, die ich aus Wismar mitgebracht habe. Susanne, die Parteienskeptikerin, rollt dabei einen Spruch über Chaos und verborgene Schätze auf und lacht. „Oh ja. Das passt.“
Seit zwei Jahren ist sie Mitglied in der „wildesten Partei Deutschlands“ – und heute auf Listenplatz 1.
„Ich will in den Bundestag!“, sagt die rot gelockte Piratin entschlossen. „Die wichtigen Themen wollen dorthin.“

„Ohne Partei ist es schwer, hier etwas mitzugestalten“, spricht Susanne aus Erfahrung. „Parteien sind wie ein Link zum Gesetzgeber und oft die einzige Möglichkeit, an die Legislative ranzukommen. Das ist nicht optimal und auch altmodisch. Doch die Form ist so“, bekennt die 46-Jährige. „Das wird jedenfalls ein lustiger Sommer“, schmunzelt sie und wickelt eine von ihren ungebändigten Locken um den Finger. „Ich fahre eben diesmal nicht nach Italien, sondern mache lieber noch eine Runde Demokratie.“ 

Das erste Mal begegne ich Susanne Wiest im Januar 2009 im HCC Hannover. Sie hält dort ihre erste Rede zum Thema Grundeinkommen. Die online-Petition der Tagesmutter aus Greifwald erregt seit Wochen Aufsehen. Auch ich bin angereist, um jene Frau kennenzulernen, die mich aus einem gut bürgerlichen Dornröschenschlaf gerissen hat. Seit ich durch Susanne Wiest vom Impuls des BGE gehört habe,  bin ich wie elektrisiert. Entschlossen und begeistert leite ich die Petition an Freunde weiter, lese, reise, recherchiere und fühle wieder Zuversicht und Freude auf dem Ackerboden lebendiger Demokratie. Zusammen mit Götz Werner, Sascha Liebermann, Ute Fischer und Gerald Häfner spricht Susanne damals von der Bühne in der Eilenriedehalle zu einem bunt gemischten Publikum. Ich kenne die Leute links und rechts neben mir auf den Zuschauerstühlen gar nicht, spüre jedoch binnen kürzester Zeit eine Vertrautheit und Verbundenheit, die damals für mich noch ganz neu war und die mich bis heute trägt.
Etwa eine Woche später bricht der Server des Bundestages zusammen. Die mächtige Resonanz der Mitzeichner legt ihn für zwei Stunden lahm. Die Idee eines bedingungslosen sGrundeinkommens bündelt Kräfte und Mächte und verbreitet sich wie ein Lauffeuer. 52.973 Unterschriften innerhalb kürzester Zeit. Rekord! Zur Bundestagswahl 2009 tritt Susanne als parteilose Einzelbewerberin im Wahlkreis Greifswald-Demmin-Ostvorpommern an. Im November 2010 bringt sie ihr Anliegen vor dem Petitionsausschuss im Deutschen Bundestag vor. Graswurzeldemokratie.

Und heute.
Was ist anders?

„Es ist eher komplizierter als einfacher geworden“, sagt die Piratin. „Ich weiß noch gar nicht so wirklich, welches Element jetzt dazu gekommen ist?“ Sie hält einen Moment inne. „Der Garten hat einen Zaun. Die Partei stellt auch eine Grenze dar. Ich werde mit vielen Leuten und Meinungen in einen Topf geworfen. Für mich ist es Wagnis und Aufgabe zugleich, diese Vielfalt und Widersprüchlichkeiten auszuhalten und oft einfach so stehen zu lassen.“

Vor einer Woche war Piratenparteitag in Neumarkt. Zeitgleich ein anderes Highlight für Susanne Wiest: Wagenburgtreffen in Münster. Sie verbindet das eine mit dem anderen. Auch im Herzen. „Münster war wie ein Klassentreffen nach vielen Jahren. Dort ist alles erblüht. Ich war ganz berührt.“

Viele Jahre hat Susanne selbst in einem blauen Zirkuswagen gelebt. Ihr Sohn Joshua ist dort geboren. „Fünf Leute auf 40 Quadratmetern – dafür sehr viel Wiese und Land drumherum.“

Die Wagenburg ist wie ein Gleichnis für die gebürtige Bayerin. „Du lebst in einer Gemeinschaft, machst Wege, pflanzt Obstbäume an, es gibt keinen Chef, wenig Reglementierungen – und jeder Wagen sieht anders aus. Der eine mag eben Schrottkunst vor der Tür, der nächste viele Blumentöpfe, einem dritten ist beides wurscht. Und doch ist jeder Wagen für sich individuell und schön. Man wird so deutlich. In einer Mietwohnung wird das Bedürfnis, sich zu zeigen, doch oft völlig erstickt. Ein bunter Fußabstreifer und ein Kranz an der Tür – das war’s dann. Da halte ich es lieber mit Hundertwasser, der gesagt hat, jeder sollte doch zumindest so lang sein Arm mit dem Pinsel aus dem Fenster reicht, sein Haus bunt bemalen dürfen. Dann kann ich zu meinen Freunden sagen: Schau, das dort, mit den gelben Margeriten mit den blauen Punkten, das ist meins.“

Gleichschaltung ist für Susanne Wiest völlig uninteressant. Langweilig! Vielmehr beschäftigt sie die Frage: Wie geht das mit der Individualität und der Gemeinschaft?

„Das ganze ist ein riesiges Experiment. Schnelle Lösungen gibt es nicht. Dazu sind die Dinge zu komplex. Jene, die immer gleich fertige Analysen und Antworten parat haben, sind meist im alten Denken verhaftet und folgen überholten Mustern. Mit Wandlung hat das nichts zu tun.“

Ich frage Susanne nach ihrer Erfahrung mit der Bedingungslosigkeit.

„Für Leute ist das oft Schocking!“, erfährt Susanne in Gesprächen zum Grundeinkommen immer wieder. „Dabei erlebt jeder von uns, wenn er Glück hat, immer wieder Formen der Bedingungslosigkeit. Zum Beispiel in der Familie oder bei Freunden: Ich muss nicht erst irgendwas leisten, um ein Abendessen zu bekommen. Sobald wir etwas schenken, machen wir auch Bedingungslosigkeit erlebbar. Kürzlich habe ich darüber nachgedacht, dass auch viele Abgeordnete bereits von einer gewissen Bedingungslosigkeit berührt sind. Sie bekommen ihre Diäten, ob sie dafür nun Reden halten oder Anträge einbringen oder nicht. Manche tauchen nicht mal im Parlament auf. Geld bekommen sie dennoch. Diäten sind kein leistungsbezogenes Einkommen. Sie machen im Grunde einen großzügigen Rahmen von bedingungslosem Vertrauensvorschuss deutlich. So neu ist der Gedanke also nicht. Wir alle müssen uns dieses Feld nur mehr und mehr bewusst machen und weiter erforschen.“

„Ich will dahin gucken, wo es klappt“, sagt Susanne. Ich lauer nicht auf Fehler! Vielfalt ist der wahre Zauber!“

Tatsächlich wollte sie als Kind Zauberin werden. „Manchmal habe ich mir vorgestellt, wie es wäre, wenn eine gute Fee mit drei freien Wünschen zu mir käme. Und ich wusste, dann werde ich schlau genug sein und mir nicht Taschentuch, Roller oder sowas Dämliches wünschen, sondern den großen Coup landen: Ich will eine Zauberin sein! Dann kann ich mir eh alles wünschen.“

Susanne lacht. „Ja, ich wollte immer etwas werden und sein, wo ich frei bleibe.“

Magie in ihrem Leben erlebt sie auch ohne gute Fee immer wieder.
„Wunder geschehen!“, weiß sie.
Und daran sind Menschen beteiligt.

„Immer wieder habe ich wundersamste Unterstützungen und Zufälle erlebt“, erzählt sie. „Oft an einem Punkt, an dem ich der Verzweiflung nah war und dennoch meine Ängste wieder ein Stück loslassen konnte. Mein Motto: Ich mache jetzt, was ich wirklich machen will. Alles andere ist mir egal…. und dann ging es auch und die verrücktesten Dinge und Menschen kamen auf mich zu.“

Sich zu verbiegen, nur um Geld zu verdienen, ist unwürdig. Menschen auszugrenzen, weil sie kein Geld haben, ebenso. „Diesen Stress dürfen wir heute niemandem mehr antun“, sagt Susanne Wiest. „Ich bin mit dem ganzen Thema auch noch nicht durch“, gesteht sie. „Doch Einkommen und Arbeit habe ich weitgehend in meinem Denken und Tun entkoppelt. Wir glauben, Geld ist der Motor für alles in unserer Gesellschaft. Doch dass wir etwas tun, etwas Neues tun, ist die wahre Schöpferkraft. Alles, was ich auch für andere tue, ist gestaltende Arbeit, kreative Arbeit. Immer wieder stehe ich vor dem Nichts, aber ICH WILL!“

Die Gesellschaft macht gerade einen gewaltigen Wandel durch.
„Es will etwas werden“, spürt Piraten-Zauberin Susi.
„Die richtige Arbeit teil sich mit. Es gibt eine Freiheit in der Hinwendung zu dem, was ich wirklich tun will. Eine wirkliche Aufgabe kannst du nur schöpferisch ergreifen. Niemand kann sie dir überhalftern oder aufzwingen. Das ist verrückt. Wenn du wirklich von einer Aufgabe angesprochen wirst, die zu dir passt, dann spürst du es und es ist dir eine Ehre, sie in dieser Welt zu tun. Das ist das wirklich Neue.“

Humane Schöpfer-Magie.

Susanne Wiest hat ihr Ding gefunden.
„Ich bin so sehr in das Grundeinkommen verliebt!“, strahlt die zweifache Mutter fröhlich.
„Dabei kann ich meine Liebe nicht mehr so exklusiv platzieren. Liebe ist eine Grundhaltung. Jemand sagte kürzlich: Geben und Teilen sind der neue Reichtum. Dem stimme ich dankbar zu. Und ich vertraue. Immer wieder.“

Piratin vor Schiff.

Latte Macchiato an der Wieck.
Sonniges Blühen mit Bedingungslosem Grundeinkommen.
Susanne und Marc im Gespräch.

Freude

Abhängen!

Freude ist eine Begleiterscheinung produktiven Tätigseins. Sie ist kein ‚Gipfelerlebnis‘, das kulminiertund abrupt endet, sondern eher ein Plateau, ein emotionaler Zustand, der die produktive Entfaltung der dem Menschen eigenen Fähigkeiten begleitet. (Erich Fromm, Haben und Sein)

Macht Freiheit Mittagspause?

„Hast du heute frei?“, fragt mich eine Bekannte im Bistro.
„Nein, nein“, entgegne ich zügig. „Mittagspause.“
***
Das ist doch alles vollkommen verrückt mit der Freiheit, denke ich.
Vor mir der Teller. Mit einem Rand. 
Frei haben? Irre. Das ergibt keinen Sinn.
Frei sein. Wie geht das?
„Bist du wirklich bereit für die Freiheit?“, fragt eine innere Stimme.
Und meint mich.
Ich spüre Grenzen.
In mir.
Und löffle meine Suppe weiter.
Arbeit.
In der Mittagspause.

*