Gerade fühle ich eine machtvolle berührende Dankbarkeit. Das Leben ist ein Mysterium. Ich bin so dankbar für seine Höhen und Tiefen und für die Menschen, die meinen Weg weiten, durchlichten, verdunkeln, verengen, enttäuschen, bereichern, nähren und begleiten. Jeder ist wertvoll. Dankbar bin ich vor allem für meine Freunde. Jene, die mir sehr sehr nah sind und jene, die immer mal wieder zum richtigen Zeitpunkt in meinem Leben auf- und wieder abtauchen, wenn ich sie rufe… oder auch nicht. Ich erkenne die Vollkommenheit. Auch wenn ich diese Sicht nicht halten kann, alles fließt… Gerade jetzt, im Raum der Dankbarkeit, ist auch die Unvollkommenheit wundervoll. Danke, an jene, die mit mir immer wieder um Werte ringen, laut und leise – die sich nicht scheuen, Fehler zu machen und sie auch zugeben können. Großartige Menschen machen großartige Fehler, die uns und anderen ermöglichen zu wachsen, zu lernen und zu verzeihen. Danke an jene, die mit mir über Wellen surfen, steile Kurven nehmen, die mit mir witzeln und lachen, verzweifeln, weinen, fallen, wieder aufstehen… die mich halten und mich halten lassen. Mensch, der du an meiner Seite dieses unglaubliche Leben atmest… Ich verneige mich vor dir! WIR sind hier und jetzt.
Ein Kühlschrankwitz für Flüchtlinge
Warum wir hier sind
Wir sind nicht hierhergekommen,
um einander gefangen zu nehmen,
sondern, um uns noch tiefer
der Freiheit und der Freude zu ergeben.
Wir sind nicht in diese wunderbare Welt gekommen,
um uns fern der Liebe als Geiseln zu halten.
Lauf mein Liebstes, lauf allen davon,
die spitze Messer in deine zarten Träume,
in dein edles, heiliges Herz stoßen wollen.
Uns ist es aufgegeben, uns mit den Stimmen
der inneren Berufung zu befreunden,
die da draußen vor dem Haus unserem Geist zurufen:
„Ach bitte, bitte komm heraus und spiel mit uns!“
Denn wir sind nicht hierhergekommen,
um einander gefangen zu nehmen
oder unsere wunderbaren Seelen einzuschließen,
sondern, um immer tiefer zu erleben,
was in uns göttlich ist
MUT, FREIHEIT, Licht!
(Shams-Ud-Din Muhammad Hafiz zugeschrieben)
Lebenskünstler
„Wenn ich etwas Neues brauche, mache ich es mir selbst“, sagt Marcus Graucob. Der 55-Jährige ist Künstler – Lebenskünstler. „Ich bin freiwillig arm“, versucht er, seinen Weg in Worte zu fassen. „Genau dadurch fühle ich mich reich.“ Ob Marmeladen, Säfte, Chutneys, Seifen, Jacken, Mäntel, Kissen, Mützen – Marcus Graucob kocht, rührt, siedet, gärtnert, schneidert, klebt und hämmert in Eigenregie.
„Ich mag es, vorhandene Dinge neu zu arrangieren“, erzählt er. Aus seiner Garderobe zieht er einen langen Mantel mit Kapuze hervor. „Mein Hausmantel“, lacht er. „Bequem, warm, praktisch“, schwört der Wahl-Wismarer lachend. „Er ist außerdem eine Hommage an meine Mutter – sie ist vor drei Jahren gestorben“, fügt er zu. „Für diesen Mantel habe ich eine Tagesdecke, die ich einmal von ihr geschenkt bekam, neu verarbeitet. Das Futter sind billige Fleecedecken. Ich fühle mich darin richtig wohl.“ Die Wände in der Wohnung des gelernten Restaurators sind leer. „Ist doch eh schon alles viel zu viel, was uns umgibt“, erklärt er. Dafür verteilen sich in den Räumen Objekte, Arrangements, Skurrilitäten. Ein Stück Treibholz steht auf einem Sockel am Fenster, darauf ein Tierschädel. Die Hörner sind aus Rollo-Ketten. Eine alte Brosche komplettiert das Ensemble. Auf einer Fensterbank stehen Einweckgläser – darin Glasscherben, Puppenköpfe, Arme, Beine. „Eingeweckte Kindheit“, kommentiert der Künstler das seltsame Kabinett. „Ich habe mich lange mit dem Thema beschäftigt.“ Sich immer wieder auf Themen einzulassen, in ihre Tiefen hinabzusteigen, macht ihn als Lebenskünstler aus. „Ein wichtiges Wort in meinem Leben ist ,genug‘“, erzählt Marcus. „Was ist genug? Was ist mein eigener Wunsch? Und wann bin ich durch Werbung und Umwelt beeinflusst? Ich finde es wahrlich nicht einfach, mich in dieser Welt so zu verhalten, dass ich sie nicht noch mehr kaputt mache“, sagt Graucob, der im Übrigen noch nie eine Jeans besessen hat.
Gier und Neid habe er sich abgewöhnt, sagt der Mann mit den beiden grauen Bartzöpfen. Wie das? „Geholfen hat mir vor allem die Kommune Friedenshof bei Hannover. Das ist eine spirituelle Gemeinschaft, die auf einem Bauernhof lebt. Sie ist von Thich Nhat Hanh und Lehrern anderer Traditionen inspiriert.“ Mit den Menschen dort verbringt Marcus Graucob regelmäßig Zeit. Sein Auto hat er schon vor Jahren abgegeben. „Ohne zu sterben“, lacht er. „Mein Bauch wurde dadurch schmaler und die Brieftasche dicker.“
Meditation gehört zum Alltag des Künstlers. „Ich nenne das aber nicht mehr so“, erklärt Marcus. Wir reden über Spiritualität und auch darüber, welche seltsamen Blüten sie mitunter treibt. „Was ist Spiritualität heute?“, frage ich ihn. „Bullshit!“, kommt es wie aus der Pistole geschossen. Marcus grinst. Dann relativiert der Künstler: „Ok. Lifestyle. Spiritualität ist oft nur Lifestyle.“ Genau deshalb meidet er auch das Wort „meditieren“. „Ich sitze“, sagt Marcus. „Jeden Tag 20 Minuten.“ Die Bodenkissen für sein tägliches Ritual hat er natürlich selbst gefertigt.
Neue Nachbarn: Flüchtlinge
Das Leben von Bernd Schulz hat sich verändert. Sein Dorf auch. Seit Wochen lebt der Rentner mit Flüchtlingen zusammen – Tür an Tür mit Menschen aus der Ukraine, Syrien und Albanien. Sein Fazit: „Es ist lebendiger geworden.“ Der 66-Jährige geht offen mit der neuen Situation um. „Irgendwer braucht immer irgendwas“, erzählt er und kramt in seinem Werkzeug-Fundus. Ehefrau Margrit schüttelt hin und wieder liebevoll den Kopf. Ihr Mann hilft, wo er kann, blüht förmlich auf, weil es ihm gut tut, gebraucht zu werden. Erst kürzlich hat er zusammen mit den Ukrainern Blumen gepflanzt.
„Die drehen ja sonst durch, wenn die nichts zu tun haben“, sagt Schulz. Mitten im Arbeitseinsatz ist er zu Netto gefahren und hat Getränke für alle besorgt. Von seiner schmalen Rente. „Mit einem vernünftigen Wort und einem Handschlag kann man vieles regeln“, sagt der engagierte Rentner. „Ja, wir persönlich kommen mit den neuen Nachbarn gut klar“, bestätigt seine Frau. „Manchmal mache ich mir Sorgen“, gibt die 64-Jährige zu. „Nicht jeder im Dorf mag die Fremden. Und es kommen immer mehr Flüchtlinge.“ „Stimmt“, bestätigt Roy Rietentidt. Der 47-Jährige ist Sozialarbeiter und hilft jenen, die Asyl suchen im Nordwesten. Der Landkreis hat ihn im März angestellt. „Seitdem rauche ich mehr“, sagt Roy, der nicht selten bis an die Grenzen der Belastbarkeit geht. „Mehr Flüchtlinge, mehr Zigaretten“, kommentiert er in seiner humorigen Art. Auch Bernd Schulz kennt er. Hin und wieder tauschen sich die beiden aus. „Ich bin wirklich stolz auf die Unterstützung vieler Nordwestmecklenburger“, erklärt Rietentidt. Sein Handy blinkt und klingelt unentwegt. „Wenn du in diesem Job nicht die Ruhe bewahrst, hast du echt verloren“, kommentiert der Wismarer den Dauerstress. Erst kürzlich sind Groß Stieten 24 weitere syrische Kriegsflüchtlinge zugewiesen worden. „Diese Zuweisung kam so plötzlich, dass die Wohnungen noch nicht mal fertig sind“, erklärt Roy Rietentidt das Chaos am Tag X.

Menschen und Papier. In diesem Falle sind Listen hilfreich. Mohamad schaut, in welcher Etage er wohnt.
Noch während Handwerker und Möbelmonteure Waschmaschinen und Herde in den Block schleppen, kommt ein Bus aus Horst (Landkreis Ludwiglust/Parchim), dem Erstaufnahmelager für Asylbewerber und Flüchtlinge in MV, an. Männer, Frauen und Kinder mit Plastiktüten und Rucksäcken müssen erstmal auf Rasen und Bordsteinkante Platz nehmen. Einem Syrer geht es nicht gut. In einem nahegelegenen Waldstück muss der Mann sich erstmal übergeben. „Gib acht, dass du dich nicht ansteckst“, mahnt daraufhin Roy Rietentidt seine Kollegin Anni Vincenz. Beide bleiben professionell und gelassen. Routine. Mittels Listen werden Zimmer verteilt. „Ohne Listen läuft gar nichts“, lacht Rietentidt. Eine der Prioritäten: „Kurden nicht mit Moslems zusammen. Dinge, die man mit der Zeit lernt.“ Roy Rietentidt hat mittlerweile einen geschulten Blick. „Zwei der Neuankömmlinge sind schwer traumatisiert“, sagt er. „Das sehe ich an den Augen.“
Der Mann liebt seine Arbeit. „Sie ist anspruchsvoll und zeitaufwendig, aber für mich auch die Chance, meinen Beitrag zu leisten, dass in Deutschland Wärme und Geborgenheit gegeben werden.“ Klar, auch etliche Probleme sieht der Sozialarbeiter. Als einer, der täglich an der Basis wirkt, ist er für absolute Transparenz. „Wir müssen uns gegenseitig zuhören und offen miteinander reden“, plädiert der Profi-Helfer. „Es geht jetzt nur zusammen.“
Sein größter Zorn? „Was mich wirklich ankotzt, sind einige Deutsche, die Asylbewerber dafür verantwortlich machen, dass es anderen Deutschen hierzulande schlecht geht. Im Fernsehen gibt es diese Serie „Die Auswanderer!“. Deutsche suchen ihr Glück im Ausland! Und umgekehrt?! Eine miese Moral die einige haben!Ich schäme mich für solche Aussagen! Glaubt mir, auch diese Menschen, die auf der Flucht sind, haben hart gearbeitet.“

Kunst & Klo
Kunst im Klohäuschen. Diese schräge Kombi gibt es auf der Ostseeinsel Poel. Dort hat sich Anne Karpa am Schwarzen Busch, einem Urlauberparadies, in ein leerstehendes Toilettenhäuschen verliebt. Die Gemeinde hatte den verwaisten Schandfleck zur Pacht ausgeschrieben. Mit der Bitte, die „großen und kleinen Geschäfte“ doch künftig mit kreativen Ideen zu begleiten. Platz gibt’s in dem Flachbau, der unmittelbar an einem einsamen Strandaufgang liegt, ausreichend. „Ich fand die Idee lustig“, erzählt Anne Karpa. Sie bekommt den Zuschlag und gründet das KloBauerKollektiv. Zum Kern der Truppe gehören Christiane Gregorowius, Keramikerin aus Dambeck sowie Janna Skroblin, Bühnenbildnerin und Puppenbauerin aus Alt Farpen. Auch andere Künstler und Kunsthandwerker aus der Region Nordwestmecklenburg sind durch temporäre Ausstellungen vertreten. „Die letzte Saison lief super an“, erzählt Anne Karpa glücklich. „Die Menschen, die zu uns finden, kommen oft ganz zufällig vorbei. Wir liegen ja etwas ab vom Trubel. Umso großer ist die Freude, wenn sie bei uns individuelle Stücke finden, die sie als Andenken mit nach Hause nehmen können“, so die Töpferin aus Madsow. Das Gästebuch in der Klobauter-Oase strotzt vor dankbaren und fröhlich Einträgen. „Ein Super-Klo!“ steht da zum Beispiel in feinen Lettern geschrieben. „Da macht es sogar Spaß, auf die Toilette zu gehen“, schreibt ein anderer. Viele Feriengäste versprechen wiederzukommen. Dabei geht es weniger um die crazy Toiletten in DDR-Charme, die sich in einem Teil des Gebäudes befinden, als vielmehr um die feinen Töpferarbeiten und Kreativ-Kurse, die Anne Karpa „nebenbei“ anbietet. Mit ganz viel Herzblut. „Zwar liegt der eigentliche Saisonstart im Juni noch in einiger Ferne, doch am 14./15. März öffnet die Töpfer- und Kreativwerkstatt erstmals in diesem Jahr ihre Pforten. Anne Karpa lädt wie viele andere Werkstätten im Land zum „Tag der offenen Töpferei“ ein. Wellenrauschen und Möwengeschrei sind gratis. Die Toilettenbenutzung kostet 50 Cent.

Von der Freude
Ich lese. Es ist still in meiner Wohnung. Aus dem Badezimmer dringt das Ticken einer Uhr, ab und zu knarrt der Stuhl, auf dem ich sitze. Ich schlürfe Kaffee. Plötzlich zwischen dem Umblättern der Seiten in meinem Buch ein leises feines Geräusch. Ganz nah. Ich kann es nicht zuordnen. Doch es bannt meine Aufmerksamkeit. Nochmal. Und dann sehe ich es: Von den Osterglocken auf meinem Küchentisch lösen sich die Schalen. Sie fallen…. Die Blüte kann sich entfalten. Dieses kleine feine Geräusch: FREUDE.
Vom Streiten
Gerade sprach ich mit Imad Ousaouri aus Agadir über die deutsche Sprache, Muslime, Integration, Frieden, die Araber, schönes Wetter, Kamele, Respekt, Gott, die Welt und Gewürze. Was man als neugierige Journalistin einen marokkanischen Landsmann halt alles so fragt. Mit einem Zwinkern will ich von dem 28-jährigen Nordafrikaner (er lebt seit letztem April in der Hansestadt Wismar) schließlich auch wissen, ob er denn auf deutsch auch schon streiten kann. Er lacht. Dann seine Antwort, die mich fasziniert….
Imad sagt, dass Streit in jeder Sprache im Grunde ganz einfach ist. Dann nimmt er einen Skizzenblock, denkt kurz nach und zeichnet etwas. Imad vergleicht ein gutes Wort mit einem Backstein. „Schau“, sagt er. „Gute Worte sind wie Backsteine. Du kannst sie zusammensetzen, Schritt für Schritt… und zum Beispiel ein Haus daraus bauen. Das braucht Zeit und auch ein bisschen Anstrengung. Ein schlechtes Wort hingegen ist… wie sagt man…???“ (Imad malt… und wir einigen uns dann lachend auf „Abrissbirne“). „Genau“, sagt er. „Ein schlechtes Wort ist wie eine Abrissbirne. Nur ein (!) einziges Wort genügt, um ein ganzes Haus einstürzen zu lassen. Verstehst du? Das meine ich mit: Streiten ist leicht!“
Der mit dem Buch tanzt
„Alt werden ist widerlich“, behauptet Jürgen Cremer bei einem Treffen vor wenigen Tagen. „Schreib aber statt ,widerlich‘ besser ,unangenehm‘ – das klingt nicht so böse . . . obwohl es wirklich widerlich ist, glaub mir.“ Es ist jene Direktheit, auf deren Grund jedoch immer auch die Schelmenglocke klingelt, die den Menschen Jürgen Cremer ausmacht. Im Gespräch, in der Begegnung, im Leben überhaupt. Heute wird das Wismarer Urgestein 70 Jahre alt. Sein Bart – mittlerweile silbergrau – ist 25 Jahre jünger. „Den trage ich ununterbrochen seit 1970“, erklärt Cremer schmunzelnd. „Mein kleiner Protest nach der Armeezeit.“ Bart und Proteste werden zu seinen Markenzeichen. Ja, Widerstände haben ihm immer Spaß gemacht. „Die Genossen ärgern“ war für den Kommissionshändler Cremer zu DDR-Zeiten fast wie ein Sport. „Ich mochte dieses Land nicht“, gibt er rückblickend zu. Dafür liebt er Bücher. Damals vor allem die von Christa Wolf, Stefan Heym, Ulrich Plenzdorf, Hermann Kant, Jürgen Borchert oder Erich Loest. Er verkauft nicht nur deren Geschichten auf einem Strandkarren, aus einem alten B 1000 heraus oder in seinem Büchereck in der Dankwartstraße, sondern holt jene intellektuellen Widerspenstigen des Ostens allesamt nach Wismar. „Ich habe halt Lesungen gemacht mit Leuten, die mir passten“, erinnert sich der Wismarer. „An Heym habe ich bestimmt vier, fünf Jahre gearbeitet“, sagt er. Cremers Beharrlichkeit wird belohnt. Mit Stefan Heym, dem bekannten Schriftsteller und Bürgerrechtler, quatscht er im März 1979 schließlich bis tief in die Nacht. Das bringt ihm neben viel Inspiration auch eine Hausdurchsuchung der Stasi ein. Für Ulrich Plenzdorf kriegt er zwei Jahre Mensa-Verbot. „Mensch, das hat Spaß gemacht“, sagt Jürgen Cremer, zieht genüsslich an seiner Zigarette und grinst in sich hinein. Angst? „Nein, die hab ich nie wirklich gehabt“, beantwortet er die Frage nach kurzem Zögern. „Ich wollte immer wissen, wie weit ich gehen kann.“ Nach der Wende wird Cremer Wismars erster frei gewählter Kultursenator. „Das waren vier aufregende Jahre in der Bürgerschaft“, erzählt er anerkennend. „Keiner hatte Ahnung, wie es geht, doch wir waren voll und ganz bei der Sache.“ Von „Rosi“ alias Rosemarie Wilcken übernimmt er einen Tag lang sogar das Bürgermeisteramt. Eine Urkunde über diesen Deal hängt jahrelang in seinem Büchereck. Nein, tauschen möchte er aktuell auf gar keinen Fall mit den lokalen Politikern. „Heute lasse ich mich regieren“, frotzelt er. Seit fünf Jahren ist Jürgen Cremer Rentner. „Bisher hatte ich noch nicht eine Minute Langeweile“, gibt er zu. Vor allem die Maulwürfe auf seinem Gartengrundstück in Moidentin halten ihn auf Trab. Viel Zeit verbringt er hier: harkt, grubbert, baut, sortiert, liest und genießt. „Ich habe mich hier schon als Kind sehr wohl gefühlt“, schmeichelt Cremer seinen 800 Quadratmetern Land direkt am Wallensteingraben. Die kleine Oase in direkter Nachbarschaft zum Moidentiner Bahnhof hat er von seinem Großvater übernommen. Von ihm, Martin Pusch, übernimmt er 1972 auch den Papier- und Buchdruckladen in der damaligen Karl-Liebknecht-Straße. Bereits als Knirps lochte er dort die Lottoscheine der Kunden. Journalist wäre er gern geworden, erzählt Jürgen Cremer – oder Innenarchitekt, Tischler, Seefahrer. Das Leben entscheidet anders. Er bleibt im Familienunternehmen, lernt Handelskaufmann. Mitte der 70er-Jahre lässt er sich dann in Leipzig zum Buchhändler ausbilden. Die Bücherwelten von Hartpappe, Reclam, Hinstorff und Co. sind sein Element. „Mit Aalfisch, reichlich rotem Wein und weiteren Mätzchen“ kommt der Wismarer immer wieder an Exportreserven und Titel, von denen andere Buchhändler im Osten damals nur träumten. Außerdem hätte ohne ihn damals wohl niemand in Wismar je eine Bibel gekriegt. „Ich war immer ein beweglicher Mensch“, lautet Cremers Selbsteinschätzung im Rückspiegel. „Heute hat jeder alles“, sinniert er. Lange spürt er dem eigenen Satz nach. Dann sagt er: „Manchmal wünsche ich mir den Mangel zurück. Ganz ehrlich, dieses widerliche Überangebot an jeder Ecke kotzt mich an.“ Klare Worte von einem, der schon zu Mauerzeiten per Dauervisum in den Westen reisen durfte. Konsum hat ihn dabei nie sonderlich interessiert. Wir reden über Werte. Die eigenen zu reflektieren, lässt er sich Zeit. „Soziale Gerechtigkeit“, sagt er schließlich nach einer Pause. Ein Grund, warum er 1990 in Wismar als einer der Ersten in die SPD eintritt. Sein Mitgliedsbuch trägt die Nummer 14. „Ja, kann ich so stehen lassen“, setzt er noch mal nach. Ungerechtigkeit mag ich überhaupt nicht.“ Mag er sich selbst? Auch darüber redet Jürgen Cremer. „Ich bin wohl nicht der, den ich oft gegeben habe“, spricht er einige Gedanken offen aus, die nach einem intensiven Leben immer mal wieder im Kopf kreisen. Altersweisheit mit 70? „Davon merke ich nicht viel“, lacht er. „Jedenfalls wünsche ich mir, dass ich noch lange wach und gesund bleibe.“ Vor zehn Jahren zum 60. Geburtstag war er mit seiner Frau Sybille in New York. Und heute? „Ich soll nüchtern und pünktlich zu einer Feier erscheinen, die Freunde und Weggefährten für mich organisiert haben. Ich bin dort nur Gast.“Ich wollte immer wissen, wie weit ich gehen kann. Angst? Nein, hab ich nie gehabt.“JürgenCremer, Wismarer Urgestei
„ hab ich nie wirklich gehabt“, beantwortet er die Frage nach kurzem Zögern. „Ich wollte immer wissen, wie weit ich gehen kann.“ Nach der Wende wird Cremer Wismars erster frei gewählter Kultursenator. „Das waren vier aufregende Jahre in der Bürgerschaft“, erzählt er anerkennend. „Keiner hatte Ahnung, wie es geht, doch wir waren voll und ganz bei der Sache.“ Von „Rosi“ alias Rosemarie Wilcken übernimmt er einen Tag lang sogar das Bürgermeisteramt. Eine Urkunde über diesen Deal hängt jahrelang in seinem Büchereck. Nein, tauschen möchte er aktuell auf gar keinen Fall mit den lokalen Politikern. „Heute lasse ich mich regieren“, frotzelt er. Seit fünf Jahren ist Jürgen Cremer Rentner. „Bisher hatte ich noch nicht eine Minute Langeweile“, gibt er zu. Vor allem die Maulwürfe auf seinem Gartengrundstück in Moidentin halten ihn auf Trab. Viel Zeit verbringt er hier: harkt, grubbert, baut, sortiert, liest und genießt. „Ich habe mich hier schon als Kind sehr wohl gefühlt“, schmeichelt Cremer seinen 800 Quadratmetern Land direkt am Wallensteingraben. Die kleine Oase in direkter Nachbarschaft zum Moidentiner Bahnhof hat er von seinem Großvater übernommen. Von ihm, Martin Pusch, übernimmt er 1972 auch den Papier- und Buchdruckladen in der damaligen Karl-Liebknecht-Straße. Bereits als Knirps lochte er dort die Lottoscheine der Kunden. Journalist wäre er gern geworden, erzählt Jürgen Cremer – oder Innenarchitekt, Tischler, Seefahrer. Das Leben entscheidet anders. Er bleibt im Familienunternehmen, lernt Handelskaufmann. Mitte der 70er-Jahre lässt er sich dann in Leipzig zum Buchhändler ausbilden. Die Bücherwelten von Hartpappe, Reclam, Hinstorff und Co. sind sein Element. „Mit Aalfisch, reichlich rotem Wein und weiteren Mätzchen“ kommt der Wismarer immer wieder an Exportreserven und Titel, von denen andere Buchhändler im Osten damals nur träumten. Außerdem hätte ohne ihn damals wohl niemand in Wismar je eine Bibel gekriegt. „Ich war immer ein beweglicher Mensch“, lautet Cremers Selbsteinschätzung im Rückspiegel. „Heute hat jeder alles“, sinniert er. Lange spürt er dem eigenen Satz nach. Dann sagt er: „Manchmal wünsche ich mir den Mangel zurück. Ganz ehrlich, dieses widerliche Überangebot an jeder Ecke kotzt mich an.“ Klare Worte von einem, der schon zu Mauerzeiten per Dauervisum in den Westen reisen durfte. Konsum hat ihn dabei nie sonderlich interessiert. Wir reden über Werte. Die eigenen zu reflektieren, lässt er sich Zeit. „Soziale Gerechtigkeit“, sagt er schließlich nach einer Pause. Ein Grund, warum er 1990 in Wismar als einer der Ersten in die SPD eintritt. Sein Mitgliedsbuch trägt die Nummer 14. „Ja, kann ich so stehen lassen“, setzt er noch mal nach. Ungerechtigkeit mag ich überhaupt nicht.“ Mag er sich selbst? Auch darüber redet Jürgen Cremer. „Ich bin wohl nicht der, den ich oft gegeben habe“, spricht er einige Gedanken offen aus, die nach einem intensiven Leben immer mal wieder im Kopf kreisen. Altersweisheit mit 70? „Davon merke ich nicht viel“, lacht er. „Jedenfalls wünsche ich mir, dass ich noch lange wach und gesund bleibe.“ Vor zehn Jahren zum 60. Geburtstag war er mit seiner Frau Sybille in New York. Und heute? „Ich soll nüchtern und pünktlich zu einer Feier erscheinen, die Freunde und Weggefährten für mich organisiert haben. Ich bin dort nur Gast.“
