Zungenschlacht

Martin und ich haben uns während einer Therapeutenausbildung kennengelernt. Das war 2008 in Melleck im Berchtesgadener Land. Gipfel und Berge umgaben unser Seminarhaus. Stille Zeugen unserer Arbeit und irgendwie eine passende Kulisse. Wirklich weit konnte das Auge nicht schauen. Nicht in der Horizontalen. Aus dem Tal wurde jeder Blick fast automatisch in die Höhe gesogen, um sich vertikal auszurichten. Himmel und Erde schienen hier einander zu berühren.

Wir begegneten uns morgens am Buffet. Essen verbindet – und schmeckt. Wir hatten zuvor noch keine drei Sätze gewechselt. Aufgefallen war er mir längst. Seltsamer Typ. Er übernachtete nicht wie alle anderen im Hotel, sondern stets in seinem weinroten VW-Bus, den er „Zora“ nannte, lief immer und zu jeder Zeit barfuß und nutzte die Seminarpausen, um Teilnehmer(Innen) zu massieren. Nackt, versteht sich. Sie entspannten und schwärmten  – ganz und gar berührt vom Handwerk des barfüßigen Lomi-Meisters.

An jenem Morgen stellten sich mir Martins nackte Füße in den Weg. Er zog seine Hände aus den Hosentaschen und umarmte mich. Eine von diesen innigen Umarmungen, wie sie auf Seminaren erst spontan und dann nachhaltig ausgetauscht werden. Ich war einigermaßen überrascht und ließ es geschehen. Doch dann: Ohne seine Umarmung zu lösen, hielt Martin plötzlich meinen/seinen Kopf anders und bohrte mir seine Zunge zielstrebig und tief in den Mund. Aus dem Stand. Ohne Vorwarnung. Ich war entsetzt. Darüber amüsiert sich Martin noch heute. Er meint sich zu erinnern, dass ich ihn daraufhin angeraunzt hätte:  „Frechheit. Da muss man doch vorher fragen.“ Genaue Worte erinnere ich nicht. Nur gemischte Gefühle, die er durch seine Dreistigkeit ausgelöst hatte. Nun, ich mag Menschen, die speziell sind. Spezialitäten ziehen mich magisch an und stoßen mich im zeitlichen Nacheinander oft gleichzeitig auch wieder ab. Um dieses Spiel der Energien in mir selbst zu erkennen, zu würdigen und zu meistern, war ich bei Martin definitiv an der richtigen Adresse. Offenbar war eine Begegnung zwischen uns einfach dran. Er faszinierte mich.

Unsere Zungen trafen sich daraufhin öfter. Martin lebt in einer alten Papierfabrik in der Pfalz. Ich wohne an der Küste. Wir besuchten uns gegenseitig, überwanden immer wieder die 800 Kilometer von Nord nach Süd, trafen uns in der Mitte, machten gemeinsam Ferien und mühten uns auch auf der inneren Ebene, die Waagschalen von Nähe und Distanz auszugleichen. Dabei (er)lebten wir ein köstlich verwickeltes Liebesabenteuer mit Höhen und Tiefen. Der Spannungsbogen unserer Beziehung reichte von „gemeinsam in tiefem Frieden miteinander meditieren“ bis hin zu „in verzagter Wut Grenzen überschreiten und Heiliges zerstören“. Unsere Dramen und Auseinandersetzungen waren von erlesener Qualität und erreichten seltsamerweise meist in Vollmondnächten ihren Höhepunkt. Wir liebten und litten nach Mondkalender. Noch heute ruft Martin manchmal an und schmunzelt ins Telefon: „Vollmond, Sternchen! Lass uns streiten.“

An Martins Seite löste sich all mein Zorn, den ich lange gar nicht wahrgenommen hatte und schon gar nicht zu führen wusste. Ihn verausgabte ich oft bis zur völligen Erschöpfung. Dann war ich grob, ungerecht, gemein, hochmütig und herablassend. Ich war auf dem Weg durch meine eigene Hölle. Nur ein wirklich starkes Herz kann uns auf solch heilenden „Trips“ begleiten. Martin blieb. Präsent.

Ich bin dankbar. Dankbar dafür, dass ich einen Freund getroffen und erkannt habe. Die Kämpfe in mir und durch uns haben mich gewandelt. Wie all das geschehen konnte, vermag ich weder zu verstehen, noch angemessen auszudrücken. Ich weiß nur, ES IST.

Kurz nach unserer ersten Begegnung, kritzelte Martin einen Satz an den Rand eines Flyers, den er mir zum Abschied mit seiner Adresse in die Hand drückte. Darauf stand: „In ewiger Liebe.“

So seltsam es klingt, ich weiß heute, dass es die Wahrheit ist.
Ich bin sicher, unsere Begegnung entfaltete eine uralte Freundschaft, die in Raum und Zeit erneut Ausdruck fand  – und dennoch heute nicht mehr daran gebunden ist.

Sie ist frei.
Für Liebe.
In der Ewigkeit.

P.S. Heute ist Vollmond, Martin*! Nur für dich.

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